29. April 2021 – Das Ziel ist klar: Spätestens im Jahr 2039 will Mercedes-Benz über eine CO₂-neutrale Pkw-Neufahrzeugflotte verfügen. Um das zu erreichen, hängt viel von der Produktentwicklung ab. Im gesamten Unternehmen engagieren sich Menschen, um das Thema Nachhaltigkeit bereits bei der Entwicklung der Fahrzeuge mitzudenken. Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen und festgestellt: Nachhaltige Produktentwicklung hat viele Facetten.
Wenn Daniel Fuhrmann eine Lederprobe für künftige Innenausstattungen bei Mercedes-Benz prüft, hält er eine kleine Sensation in seinen Händen: Das „Leder“ der Zukunft ist nämlich nicht tierischen Ursprungs, sondern vielmehr ein Stoffwechselprodukt von Bakterien- und Hefekulturen, das bei der Fermentation von Kohlenhydraten entsteht. „Materialien aus bakterieller Nano-Zellulose oder auf Basis von Pilzmyzelien können die Optik und Haptik von Leder haben. Sie sind aber wesentlich ressourcenschonender in der Herstellung, tierfrei und biologisch abbaubar. Außerdem lassen sich Farbe, Dicke, Form und Haptik schon während des Wachstumsprozesses beeinflussen“, erklärt Fuhrmann, der sich in Böblingen als Leiter „Future Inside Systems“ unter anderem mit Zukunftstechnologien für ein nachhaltiges Fahrzeuginterieur befasst. „Wir versuchen, bei der Produktentwicklung ganzheitlich zu denken, sowohl hinsichtlich des CO₂-Ausstoßes als auch beim Ressourcenverbrauch. Nachhaltigkeit bildet das Fundament der Fahrzeugentwicklung.“
Wenn es um den Schutz von Ressourcen geht, dann verfolgt das Team die Decoupling-Strategie, die Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch oder Umweltauswirkungen voneinander entkoppelt. „Das bedeutet, wir wollen weiterhin wachsen und trotzdem den Ressourcenverbrauch senken“, fasst er zusammen. „Dabei setzen wir in der Produktentwicklung auf innovative Materialien und den erhöhten Einsatz von Rezyklaten.“ Im Interieurbereich sind deshalb bei einer Vielzahl von Bauteilen bereits Rezyklate im Einsatz. „Schon heute bestehen viele Sitzbezüge aus Dinamica®-Mikrovlies, das aus recycelten PET-Flaschen hergestellt wird.“
Pioniergeist gefragt
Seit einem Jahr ist Fuhrmann Teil eines konzernweiten agilen Teams, das Nachhaltigkeit in der Produktentwicklung vorantreibt. Dazu gehören Bereiche wie Design, Vor- und Serienentwicklung, Konzernumweltschutz, Technologiefabrik, Vertrieb, Marketing und Einkauf. Das Team bewertet neue Projekte und Materialien anhand bestimmter Kriterien. „Die verschiedenen Blickwinkel auf eine Problemstellung sind sehr inspirierend und hilfreich bei der Entwicklung. Gemeinsam mit unseren Lieferanten sind wir beispielsweise dabei, den Lederbeschaffungsprozess nachhaltiger zu gestalten. Dabei sind die Rückverfolgbarkeit - hier insbesondere die Sicherstellung einer Lieferkette frei von jeglicher Form illegaler Abholzung - und das Tierwohl genauso wichtig wie der CO₂-Ausstoß und der nachhaltige Ressourceneinsatz“, erklärt Fuhrmann.
Das Interieur sei zwar im Vergleich zu Rohbau, Batterie oder Antriebsstrang ein eher kleiner Ressourcenverbraucher, aber als Beitragsleister zur Nachhaltigkeit gleichzeitig einer der emotionalsten und erlebbarsten. „Hier können wir gut zeigen, dass Nachhaltigkeit nicht Verzicht bedeutet.“ Der Lederersatz aus bakterieller Zellulose lasse sich, wenn die Materialtests gut verlaufen, künftig nicht nur für Sitzbezüge, sondern auch für kaschierte Oberflächen wie Türverkleidungen oder Instrumententafeln verwenden.
Upcycling: aus alt mach neu
„Bevor die weltweiten Rohstoffe verbraucht sind, müssen wir aus den Wertstoffen von Heute neue Werkstoffe und Bauteile generieren“, sagt Karl-Heinz Füller, Leiter des Teams „Future Outside & Materials“. Sein Job: Innovationen für nachhaltiges Exterieur vorantreiben. Die Entwicklung neuer Materialien und Innovationen für das Exterieur der Fahrzeuge ist vielfältig – von der Grundlagenforschung bis zur Umsetzung in der Serie. In seinem Team sind unterschiedliche Qualifikationen vertreten, von Verfahrens- und Werkstofftechnik über Maschinenbau bis hin zur Fahrzeugtechnik. „Wir haben unsere Projekte nahezu komplett auf Nachhaltigkeit und Luxus ausgerichtet.“
So setzen Füller und sein Team auf neue Füllstoffe bei Kunststoffen. Ein Ansatz sieht Füllstoffe aus thermisch transformiertem Hausmüll vor, ein weiterer den Einsatz pyrolisierter Biokohlenstoffe aus Natur- oder Holzüberbleibseln. „Beide Ansätze ermöglichen, den CO₂-Fußabdruck von Kunststoffbauteilen signifikant zu reduzieren“, sagt der Maschinenbauingenieur. Aus alt wieder neu zu machen, zeigt sich auch in Überlegungen, aus gebrauchten Werkstoffen neue anspruchsvolle Bauteile zu gewinnen. „Da kann es schon mal passieren, dass bisher nicht verwertbare Textilreste aus Altreifen in einer Hightech-Dämmungsmatte der S-Klasse wiederzufinden sind“, so Füller. „Qualitativ hochwertiges Upcycling wird ein Trend in der Werkstoffentwicklung für Bauteile in der Automobilindustrie werden.“
Gerade sammeln Füller und sein Team Plastikmüll im Werk Sindelfingen ein, um einen Betriebsversuch vorzubereiten, der nichts mit Exterieur zu tun hat, aber in Sachen Nachhaltigkeit ein neuer Meilenstein für die Abfallwirtschaft in der Automobilindustrie werden könnte. Durch Pyrolyse will er aus dem Plastik wiederverwertbares Öl gewinnen. „Aus 250 Kilogramm Plastikmüll möchte ich 250 Liter dieselartiges Öl machen, das ich dann in einen wirtschaftlich sinnvollen Stoffkreislauf überführen kann. Im Gegensatz zum mechanischen Recycling entsteht hierbei ein Produkt, das keinerlei technischen Nachteil gegenüber Neuware hat“, schwärmt Füller.
Optimale Konzepte dank früher Verbrauchs- und Reichweitenprognosen
Dass Nachhaltigkeit die Produktentwicklung ab einer immer früheren Konzeptionsphase prägt, weiß auch Rüdiger Steiner. Er leitet die Abteilung „Prognosen & Analysen Gesamtfahrzeug-Effizienz“. Steiner begleitet die Ambition2039 mit Schwerpunkt Klimaschutz und Luftqualität von Anfang an. Er und sein Team sorgen dafür, belastbare Prognosen sowie volle Transparenz zu Reichweite und Verbrauch zu liefern, und deren Zielerreichung zu unterstützen.
„Als Effizienzgestalter und -entwickler schauen wir in die Zukunft. Wir bilden bereits in der frühen Phase, also, wenn noch keine Hardware vorliegt, digital das komplette Gesamtfahrzeug ab“, erklärt Steiner. „Auf Basis dieser Rechenmodelle können wir dann Verbräuche und Reichweiten prognostizieren, um darauf aufbauend Konzepte abzuleiten, zu bewerten und zu optimieren.“
Die angestrebte CO₂-Neutralität bis spätestens 2039 bezieht sich auf den tatsächlichen CO₂-Fußabdruck der Neuwagenflotte im Sinne einer Lebenszyklus-Betrachtung, also von der Herstellung über die Nutzung bis zur Verwertung der Fahrzeuge. „Das Produktportfolio ist dabei der entscheidende Faktor zur Erreichung unserer Klimaschutzziele. Auf dem Weg zur CO₂-Neutralität verfolgen wir bei Mercedes-Benz für unsere Pkw und Vans drei Fahrspuren: die Hybride, die Plug-In Hybride mit größerer Batterie und Stecker zum externen Aufladen und die rein batterieelektrischen Fahrzeuge“, erklärt Steiner. „Auf dem Weg zur CO₂-Neutralität unserer Neuwagenflotte werden wir kontinuierlich mehr elektrifizierte Fahrzeuge auf den Markt bringen. Aktuell bieten wir sieben vollelektrische Modelle an. Mit EQE und EQB folgen in diesem Jahr noch zwei weitere.“
Neben dem Produktportfolio spielt die Fahrzeugeffizienz eine entscheidende Rolle. Hier seien die Stellhebel vielfältig, erklärt Steiner. „Da gibt es die Aerodynamik über Formgebung und Stirnfläche, den Rollwiderstand der Reifen, das Gewicht, den Antrieb, Klimatisierung und Thermo-Management oder auch die elektrische Bordnetz- und Komfortversorgung inklusive des gesamten Digital Life des Fahrzeugs.“ Je nachdem, wo der Kunde oder die Kundin überwiegend fahre – Autobahn oder Stadt – verändere sich die Bedeutung bestimmter Eigenschaften. Bei hohen Geschwindigkeiten auf der Autobahn dominiere die Aerodynamik, im Stau hingegen nehme der Anteil der elektrischen Verbraucher zu. „Wir haben uns eine Kompetenz geschaffen, auch Individualverbräuche unserer Kunden immer genauer vorhersagen zu können und nutzen diese Prognosefähigkeit für Konzept- sowie Technologieentscheidungen und –weiterentwicklungen.“
Neben dem Nachhaltigkeitseffekt lohnt sich die Effizienzoptimierung auch wegen weiterer Faktoren. Durch effiziente Fahrzeugkonzepte können beispielsweise bei gleicher Zielreichweite kleinere Batterien verbaut werden. Das reduziere nicht nur den CO₂-Ausstoß bei der Herstellung, sondern auch Kosten, Gewicht und Bauraumbedarf, zeigt Steiner die Bandbreite von Vorteilen auf. „Kunden profitieren direkt durch reduzierte Ladebedarfe aufgrund weniger Stopps.“
Wenn man Fuhrmann, Füller und Steiner fragt, was sie antreibt, dann fällt die Antwort überraschend ähnlich aus: Im Grunde geht es darum, etwas Gutes noch besser zu machen. Im Moment sei im Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit so viel im Umbruch wie selten zuvor, findet Daniel Fuhrmann. Dabei wachse das Verständnis von Luxus und Nachhaltigkeit immer weiter zusammen. „Denn nur nachhaltiger Luxus ist auch erstrebenswerter Luxus“, sind sich Karl-Heinz Füller und Rüdiger Steiner einig. „Dafür müssen alle Aspekte des Umweltschutzes beim Auto mitgedacht werden. Und das eben von Anfang an.“