Gorden Wagener.

Interview with Chief Design Officer Gorden Wagener

„Eine Ikone muss wirklich neu, schön und zeitlos sein.“

15. Juni 2023 – Gorden Wagener, einer der einflussreichsten Automobildesigner unserer Zeit, leitet seit 2008 den weltweiten Designbereich von Mercedes-Benz und der dazugehörigen Marken Mercedes-Maybach und Mercedes-AMG. Seit 2016 ist Wagener Chief Design Officer des Unternehmens. Sein Ziel ist es die begehrenswertesten Autos der Welt zu kreieren.

Die Grundlage dafür bildet seine Designphilosophie der „Sinnlichen Klarheit“, die den spezifischen Luxus der verschiedenen Marken der Mercedes-Benz Group definiert. Wageners Kreationen setzen neue Impulse im Luxussegment und stehen für Schönheit und das Außergewöhnliche. Bei den diesjährigen Design Essentials in Carlsbad, Kalifornien, zeigt Wagener mit seinem Team spannende Produktneuheiten und Zukunftsvisionen, sowohl physisch als auch digital.

Die inzwischen fest etablierte Veranstaltung des Mercedes-Benz Designs findet in diesem Jahr zum fünften Mal statt, diesmal unter dem Titel „Design No.5: Creating Iconic Luxury“. Was zeichnet das diesjährige Event aus?

Im letzten Jahr haben wir unsere neue Luxus-Strategie vorgestellt und erklärt, wie wir die begehrenswertesten Autos der Welt bauen wollen. Bei „Design No.5“ geht es uns nun darum zu zeigen, wie wir dies mit Inhalten füllen. Deshalb geben wir spannende Einblicke in aktuelle Projekte und Ausblicke auf zukünftige Designtrends. Und natürlich zeigen wir auch wieder neue Showcars, mit denen wir Impulse für die Zukunft des Mercedes-Benz Designs setzen. Für uns geht es darum, unsere einzigartige Formensprache auf Basis der Mercedes DNA kontinuierlich weiterzuentwickeln. Bei „Design No.5“ zeigen wir deshalb, was uns inspiriert, wie unsere Kreationen entstehen und wie wir ikonischen Luxus bei Mercedes-Benz definieren.

Wie genau definieren und inszenieren Sie ikonischen Luxus?

Bleiben wir kurz beim Stichwort „Ikone“. Jeder Designer strebt danach, etwas Neues und Einzigartiges zu gestalten und auf diese Weise ein Statement zu setzen, das lange nachhallt. Ob sein Werk zur Ikone wird, entscheidet sich aber erst mit der Zeit. Aber Ikonen machen den Unterschied, sie definieren Luxus und verkörpern dabei bestimmte Eigenschaften: sie sind originell und unverwechselbar, verfolgen ein klares Ziel, sind zeitlos, basieren auf einer starken Idee und können dabei auch polarisieren. Dabei können Produkte, Marken, Menschen oder auch ein Stil ikonisch sein.

Als Mercedes haben wir diesbezüglich das größtmögliche Potenzial, beispielsweise mit unseren ikonischen Marken Mercedes, AMG und Maybach oder herausragenden Persönlichkeiten wie Carl Benz und Gottlieb Daimler. Darüber hinaus haben wir unseren eigenen, unverwechselbaren Stil entwickelt. Und bei Mercedes gibt es viele ikonische Fahrzeuge, der 300 SL, die S-Klasse, die G-Klasse – das alles sind automobile Legenden. Es sind Autos, die eine sehr lange Ahnenreihe haben. Unser Job ist es, diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben – oder eben neu zu begründen.

Mein Team und ich haben für Mercedes schon viele Sportwagen entworfen. Einige dieser Autos sind, so glaube ich, schon Ikonen geworden: ein SLR oder ein GT, zum Beispiel. Auch der neue SL hat das Potenzial dazu, Kultstatus zu erreichen. Natürlich gibt es Maßstäbe für extraordinäres Design. Das Wichtigste ist, dass ein Fahrzeug wirklich neu und einzigartig ist, wenn es auf den Markt kommt. Darüber hinaus braucht es den magischen X-Faktor, dieses unerwartete, extraordinäre Flair, das anhaltende Faszination erzeugt. Etwas, was zuvor nicht da war, wie zum Beispiel ein 300 SL Flügeltürer – ein Fahrzeug, das zu seiner Zeit fast wie ein UFO wahrgenommen wurde. Ganz wichtig sind auch die ästhetischen Kriterien. Eine Ikone muss per se schön sein und darüber hinaus zeitlos. Sie steht nicht nur über allen Trends, sie begründet diese – und sie ist nicht modisch. Sie würde sprichwörtlich aus der Mode kommen, bevor sie die Chance hat, diesen Status zu erreichen. Ich ermutige mein Team immer wieder: Seid visionär und unkonventionell! Nur, wenn du hier und da Grundsätze brichst, kannst du Großes erschaffen. Eventuell sogar Ikonen.

Schauen wir zunächst auf das Exterieur. Welche Merkmale sind hier typisch für ikonisches Design?

Im Mercedes-Benz Design finden sich seit jeher zahlreiche ikonische Elemente. Denken Sie an die Flügeltüren des 300 SL oder die sogenannte „Shark Nose“ aus den 1950er und den 1960er Jahren, die wir noch heute neu interpretieren. Shark Nose steht für eine stark nach vorne geneigte Front, die den entsprechenden Fahrzeugen eine ausgeprägte Dynamik verleiht. Sie sehen – wie ein geläufiges Sprichwort sagt – schon im Stand schnell aus. Ein anderes ikonisches Element ist unsere „Signature Grafik“, ebenfalls im Frontbereich – bei AMG beispielsweise der typische AMG Grill mit vertikalen Streben, dessen breiteste Stelle dicht über der Straße schwebt. Diese A-Shape-Kontur verlagert den optischen Schwerpunkt sehr weit nach unten – es erinnert an die Haltung eines sprungbereiten Raubtiers. In Carlsbad geben wir einen Ausblick auf eine neue, ebenfalls sehr sportliche Grill-Variante von Mercedes-Benz. Die sieht supercool aus. Ein weiteres neues Element ist das modifizierte Tagfahrlicht, die sogenannte Augenbraue über dem Scheinwerfer, die wir durch einen stilisierten Stern ergänzt haben. Diese Features werden wir sukzessive in allen Baureihen einführen. Zusammen ergeben sie das neue sportliche Gesicht von Mercedes-Benz – die Optik der Zukunft. Und weil wir unser Design immer ganzheitlich betrachten, arbeiten wir parallel auch an korrespondierenden Elementen im Bereich der Rückleuchten.

Stichwort „ganzheitlich“ – was bedeutet ikonisches Design für das Interieur?

Uns geht es um das Gesamterlebnis, darum die Einzigartigkeit eines Mercedes-Benz sowohl außen als auch innen zu vermitteln – also um eine starke, unverwechselbare Design-Identität in allen Bereichen. Das Erlebnis im Inneren eines Mercedes zielt auf Ästhetik und Schönheit, die wir durch außergewöhnliches Design und hochwertige Materialität erreichen. Der sogenannte Cocooning-Effekt spielt dabei eine zentrale Rolle. Das Interieur soll ein Ambiente von Luxus und Geborgenheit bieten, maximalen Komfort kombiniert mit Details in höchster Qualität. Traditionelle Materialien wie Holz und Leder, die in echter Handarbeit verarbeitet werden, kombinieren wir mit modernsten High-Tech-Features wie dem Hyperscreen. Das Ergebnis ist eine völlig eigenständige, Mercedes-typische Gesamtkomposition aus analogen und digitalen Elementen. Die exquisiten Details und das Spiel mit Kontrasten im Interieur tragen mit zum ikonischen Design bei.

Bei vielen Luxusmarken sind seit geraumer Zeit größere Umbrüche zu erkennen, angefangen bei der Abkehr von traditionellen Farbkombinationen. Wir sind Treiber dieses Trends und setzen teilweise bewusst auf eine gewollte Polarisierung, etwa durch ungewöhnliche Farbkombinationen wie sonniges Gelb im Interieur und kontrastierende dunkle/schwarze Metalleffekte im Exterieur. Maybach zeigt das aus einer völlig neuen Perspektive, sehr viel extrovertierter als früher. Gleichzeitig setzen wir auf eine großzügige Oberflächensprache, etwa bei den Bildschirmen. Für diese haben wir eine neue, betont körpernahe Touch-Architektur entwickelt. Das alles sorgt für eine sehr dynamische Veränderung des Designs im Top-Segment.

Gibt es einen Zeithorizont für das Ziel, die „begehrenswertesten Autos der Welt“ zu bauen?

Ich finde, wir kreieren bereits die begehrenswertesten Autos der Welt. Das jüngste Beispiel dafür ist die neue E-Klasse, für mein Empfinden eine herausragende Verbindung von innovativer Technik und ikonischem Design. Die E-Klasse der Baureihe W 214 ist die derzeit intelligenteste Business-Limousine auf dem Markt, sie verkörpert digitalen und physischen Luxus in Reinkultur. Und ihr Design verdeutlicht das auf Anhieb. In Bezug auf das genannte Ziel, die begehrenswertesten Automobile der Welt zu bauen, sage ich aber auch ganz klar: Es ist ein kontinuierlicher Prozess, der mit jeder künftigen Modellgeneration neu startet.

Das heißt aber auch, dass Ihr Team permanent unter Hochdruck arbeitet – wie schaffen Sie das?

Zunächst einmal: Top-Performance muss jeder liefern, der auf Top-Niveau aktiv ist – ob Künstlerinnen, Leistungssportler oder eben das Design-Team bei Mercedes-Benz. Entscheidend ist, wie man damit umgeht. Und dafür gibt es, egal in welchem Bereich, nur einen sinnvollen Ansatz: ein klar definiertes Konzept mit einer schlüssigen Strategie. Das ist, zusammen mit einem hochmotivierten und kompetenten Team, die Grundlage. Bei „Design No.5“ zeigen wir, wie das bei uns funktioniert und wie alles ineinandergreift. Der Veranstaltungsort – in diesem Jahr unser Design Center in Carlsbad – spielt dabei eine zentrale Rolle. Es ist Teil unseres weltweiten Design-Center-Netzwerks, mit dem wir in allen wichtigen Märkten präsent sind, sodass wir rund um den Globus regionale Strömungen aufgreifen und ebenso interdisziplinär wie interkulturell zusammenarbeiten können. Die Design Center sind unsere kreativen Schmelztiegel, in denen wir Ideen für die Luxusautomobile der Zukunft schmieden. Dabei bildet die jeweilige Umgebung – wie etwa in Kalifornien – eine großartige, unerschöpfliche Inspirationsquelle für unsere Arbeit.

Der Mercedes-Benz Vision One-Eleven.

Vision One-Eleven.

Progressive Interpretation einer Markenikone der 1970er Jahre.

Mercedes-Benz VISION EQS, IAA 2019.

Design.

Das Design ist die emotionale Komponente im Autobau.