Unterwegs mit den Unfallforschern von Mercedes-Benz

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Die Vermessung des Schicksals.

Die Bestätigung, dass ihr Job zu den spannendsten der Industrie gehört, bekommen die Unfallforscher von Mercedes-Benz regelmäßig mit der Hauspost. Teamleiter Heiko Bürkle hat längst aufgehört, die Initiativbewerbungen zu zählen. Aber was ist so faszinierend an der Arbeit an verbeultem Blech und verkratztem Lack? Und wie trägt sie zur Sicherheit der Autos mit Stern bei? Wir haben die Kollegen der Unfallforschung bei einem Einsatz begleitet.

10 Min. Lesedauer

von Sven Sattler, Autor
erschienen am 20. Februar 2020

Es ist der erste kalte Wintermorgen seit langem. So kalt, dass Stefan Sellner erst einmal die Windschutzscheibe des weißen E-Klasse Coupé von einem dünnen Eisfilm befreien muss, bevor es losgehen kann. Losgehen mit der Arbeit, versteht sich. Denn von Losfahren kann keine Rede sein: Es ist ziemlich offensichtlich, dass das Auto den Parkplatz der Mercedes-Benz Niederlassung so schnell nicht mehr verlassen wird – obwohl es doch nur ein paar Monate alt ist. Der Kühlergrill ist völlig verbeult, der Stoßfänger liegt neben dem Fahrzeug und die tiefen Kratzer an der Seite wirken wie eine fette Narbe im einst so makellosen diamantweißen Lack.

Genau diese Spuren, diese Beulen und diese Narben sind es, die Stefan Sellner und seinen Kollegen Uwe Nagel hierhergeführt haben. Beide arbeiten in der Unfallforschung von Mercedes-Benz in Sindelfingen. Für sie ist das weiße Coupé ein ganz normaler Einsatz. Uwe Nagel hatte ein paar Tage zuvor schon telefonisch Kontakt mit dem Unfallfahrer – und hat sich gut eingeprägt, wie der den Crash erlebt hat: „Er war bei Regen auf der Autobahn unterwegs und fuhr auf der linken Spur. Er sagt, dass das Fahrzeug dann schlagartig ausgebrochen sei. Er hat wohl noch versucht, den Wagen durch Lenken und Bremsen aufzufangen. Dabei hat er sich gedreht, ist frontal gegen die Leitplanke geprallt und kam dann auf dem Seitenstreifen zum Stehen.“

Nach dem Unfall ist das weiße E-Klasse Coupé ein Totalschaden – und damit ein Fall für die Unfallforscher von Mercedes-Benz.
Nach dem Unfall ist das weiße E-Klasse Coupé ein Totalschaden – und damit ein Fall für die Unfallforscher von Mercedes-Benz.
Stefan Sellner untersucht die demolierte Fahrzeugfront.
Stefan Sellner untersucht die demolierte Fahrzeugfront.
Abriebspuren am Gurt geben Aufschluss darüber, ob die Pkw-Insassen angeschnallt waren.
Abriebspuren am Gurt geben Aufschluss darüber, ob die Pkw-Insassen angeschnallt waren.
Die Spuren am Fahrzeug helfen bei der Rekonstruktion des Unfallgeschehens.
Die Spuren am Fahrzeug helfen bei der Rekonstruktion des Unfallgeschehens.
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Das Bild, das sich den beiden Unfallforschern nun bietet, passt gut zur Schilderung: „Anhand der Spuren können wir das im Großen und Ganzen nachvollziehen“, sagt Uwe Nagel. Es ist jedoch nicht ungewöhnlich, dass die Experten schon auf den ersten Blick auf weitere Details stoßen. In diesem Fall stellen sie zum Beispiel fest, dass es – mutmaßlich kurz vor dem Stillstand des Autos – auch noch einen heftigen Kontakt zwischen dem Fahrzeugheck und der Leitplanke gegeben haben muss. Davon war am Telefon keine Rede gewesen. Uwe Nagel kennt das Phänomen aus Erfahrung: „Oft erinnern sich die Fahrer nach einem Unfall gar nicht mehr an alle Details: Es geht wahnsinnig schnell, für einen Moment dreht sich die gesamte Welt um mich herum, mein natürliches Koordinatensystem kann mir nicht mehr sagen, wo hinten und wo vorne ist. Erst, wenn das Fahrzeug zum Stehen gekommen ist, funktioniert die Orientierung wieder.“

Aus einem Unfall werden Zahlen, Daten, Fakten

Nachdem die Orientierung wieder einsetzte, konnten der Fahrer und seine Beifahrerin unverletzt aussteigen, sich hinter der Leitplanke in Sicherheit bringen und den Notfalldienst verständigen. Nicht einmal Blessuren haben sie davongetragen, keine Gehirnerschütterung, keine Prellungen, keine Schürfwunden. Sie hatten Glück im Unglück: Kein anderes Fahrzeug war in den Crash involviert - was bei einem Dreher über alle Fahrspuren ja durchaus hätte passieren können. Das Schicksal meinte es wohl doch irgendwie gut mit den beiden. Auch wenn ihr weißes E-Klasse Coupé jetzt ein Totalschaden ist. Und damit ein Fall für Uwe Nagel und Stefan Sellner.

„Es geht uns darum, die Spuren am Fahrzeug zu deuten und zu interpretieren, was passiert ist.“

Uwe Nagel Unfallforscher bei Mercedes-Benz

Die Unfallforscher von Mercedes-Benz werden aktiv, wenn im Umkreis von etwa 200 Kilometern um Sindelfingen ein Pkw mit Stern oder ein smart in einen Unfall verwickelt wird. Natürlich rücken sie nicht bei jeder kleinen Parkbeule aus: Besonders im Fokus liegen Unfälle mit Personenschaden oder starken Deformierungen am Unfallauto – und in die ein aktuelles Fahrzeugmodell involviert ist. Irgendwie logisch: Solange die Baureihe noch gebaut wird, können die Erkenntnisse der Unfallspezialisten oft noch kurzfristig in die Weiterentwicklung integriert werden.

„Es geht darum, die Spuren am Fahrzeug zu deuten und zu interpretieren, was passiert ist“, sagt Uwe Nagel, während er am Unfallauto entlanggeht. Er und Stefan Sellner werden die Schäden in den nächsten Stunden fotografieren, vermessen und kategorisieren. In aller Sachlichkeit – damit am Ende nur noch Zahlen, Daten und Fakten vom Schicksal hinter dem Unfall bleiben.

Mit Erfahrung lassen sich die Spuren lesen

Wie gehen die Unfallforscher aber genau vor? „Der erste Schritt ist wirklich immer, sich ein Bild vom Fahrzeug zu machen. Einmal um das Unfallauto herumlaufen, den Innenraum ansehen, sich die Zeit nehmen, einen Gesamteindruck und Auffälligkeiten im Kopf abzuspeichern. Erst danach geht’s ins Detail“, erklärt Uwe Nagel. Die Analyse führen sie in der Regel zu zweit durch, einer übernimmt die fotografische Dokumentation, der andere die schriftliche. Bei den Fotos gibt es einige Standardansichten, die die Spezialisten immer machen. So werden die Unfälle vergleichbar. Dann geht’s an die Detailaufnahmen: Kratzer im Lack, beschädigte Bauteile, Abriebspuren am Gurt. Die schriftliche Dokumentation erfolgt an einem Tablet mit spezieller Software. Die funktioniert wie eine Art Checkliste, bei der jedes Bauteil einzeln abgefragt wird. Für jede mögliche Art von Beschädigung gibt es einen Zahlencode. Alles, was die Unfallforscher vor Ort eingeben, wird in einer großen Datenbank gespeichert.

Es braucht eine Menge Erfahrung, um die Unfallspuren zu lesen – und aus ihnen zu rekonstruieren, was genau sich in den entscheidenden Sekunden zugetragen hat. Stefan Sellner arbeitet seit 1998 in der Unfallforschung. „Ich habe schon als Kind gerne Cola-Dosen geknautscht und war ganz fasziniert von der Art und Weise, wie sie sich verformten“, sagt der 49-Jährige: „Als Jugendlicher habe ich dann begonnen, mich für Unfallschäden an Fahrzeugen zu interessieren. In meinem Maschinenbau-Studium hatte ich dann die Möglichkeit, ein Semester in Unfallrekonstruktion zu belegen.“ Sein 55 Jahre alter Kollege ist sogar schon seit 1991 dabei: „Auch mich haben Unfälle irgendwie schon immer fasziniert“, sagt Uwe Nagel. In seinem Fahrzeugtechnik-Studium an der TU Berlin war dann Hermann Appel sein Mentor – der Professor war ein ausgewiesener Experte für Verkehrssicherheit. So führten die Wege der beiden Ingenieure ziemlich direkt zur Mercedes-Benz Unfallforschung.

Uwe Nagel arbeitet seit 1991 in der Unfallforschung von Mercedes-Benz.
Uwe Nagel arbeitet seit 1991 in der Unfallforschung von Mercedes-Benz.
Im Gespräch: Die Unfallforscher Stefan Sellner (r.) und Uwe Nagel (Mitte) erklären Autor Sven Sattler, wie sie bei ihrer Analyse vorgehen.
Im Gespräch: Die Unfallforscher Stefan Sellner (r.) und Uwe Nagel (Mitte) erklären Autor Sven Sattler, wie sie bei ihrer Analyse vorgehen.
Stefan Sellner gehört seit 1998 zum Team der Mercedes-Benz Unfallforschung.
Stefan Sellner gehört seit 1998 zum Team der Mercedes-Benz Unfallforschung.
Bei ihren Einsätzen profitieren die beiden Unfallforscher von ihrer langjährigen Erfahrung. Sie hilft, die Spuren an Unfallstelle und Unfallfahrzeug zu interpretieren.
Bei ihren Einsätzen profitieren die beiden Unfallforscher von ihrer langjährigen Erfahrung. Sie hilft, die Spuren an Unfallstelle und Unfallfahrzeug zu interpretieren.
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Uwe Nagel zeigt auf eine Delle im Lack: „Man kann an den Spuren am Fahrzeug wahnsinnig viel ablesen. Man muss nur genau hinschauen. An den Abschürfungen hier sieht man zum Beispiel, dass die Kraft, die beim Unfall aufs Fahrzeug traf, von rechts gekommen ist. Daraus lässt sich schlussfolgern, wie sich das Auto drehte, als es gegen die Leitplanke prallte. So können wir auch herausfinden, welche Kräfte bei dem Unfall auf die Menschen im Innenraum gewirkt haben.“

Und, was wissen die Unfallforscher schon über diesen Crash? Stefan Sellner kann sich auf sein geübtes Auge verlassen: „Natürlich denkt man auf den ersten Blick, dass die Beschädigungen schlimm aussehen“, räumt er ein: „Aber bei genauerem Hinsehen kommt man dann schnell zum Schluss, dass es nach unseren Maßstäben kein so schlimmer Unfall war. Ein Indiz dafür ist zum Beispiel: Der Längsträger ist kaum deformiert und die Fahrgastzelle ist intakt. Zudem haben die entsprechenden Airbags wie vorgesehen ausgelöst.“

Auch die Unfallstelle wird genau begutachtet

In der Regel gehört auch eine umfassende Besichtigung und Vermessung des Unfallorts zum Standard-Prozedere der Unfallforscher. Nur auf der Autobahn geht das aus Gründen der Sicherheit nicht. „Passiert ein Unfall aber beispielsweise auf einer Landstraße, dokumentieren wir auch, wie die Endstellungen der Unfallfahrzeuge waren, auf welchem Weg sie zum Stehen kamen, wo sie aufeinandergetroffen sind. Mit den Bildern und den Daten der Unfallstelle können wir am Computer dann den Unfall rekonstruieren“, sagt Uwe Nagel.

Die Arbeit der Experten von Daimler beginnt erst, nachdem das Blaulicht erloschen ist. Unmittelbar nach dem Unfall sind sie üblicherweise nicht vor Ort. Aber: Wäre das nicht entscheidend, um wichtige Erkenntnisse über das Geschehen zu gewinnen? „Ganz vereinzelt kommt es vor, dass uns die Polizei anruft und es dann heißt: Da ist ein paar Kilometer von euch entfernt ein Unfall passiert, wenn es passt, könnt ihr vorbeikommen und euch ein Bild machen. Das mag mitunter interessant für uns sein. Notwendig ist es aber nicht. Und wir hätten vor Ort ja ohnehin nicht die Zeit, die wir für unsere Analyse benötigen“, erklärt Stefan Sellner. Alleine die Begutachtung des Unfallortes nimmt normalerweise eine bis anderthalb Stunden in Anspruch. Die gründliche Analyse des Unfallfahrzeuges dauert zwei bis vier Stunden – „je nach Unfallschwere“.

Die Arbeit mit den Zahlen ist genauso wichtig wie die Arbeit vor Ort

Doch wie fließen all diese Erkenntnisse in die Arbeit der Fahrzeugentwickler ein? Heiko Bürkle lacht: „Man könnte sagen: Nachdem der Unfall in der Datenbank ist, geht die eigentliche Arbeit erst richtig los.“ Der 54 Jahre alte Fahrzeugingenieur leitet die Mercedes-Benz Unfallforschung. Und ihm ist wichtig, dass die Arbeit seines Teams mehr ist als nur die Detektivarbeit am Fahrzeug. Denn neben drei Ingenieuren, die die Außeneinsätze durchführen, gehören auch zwei Kollegen zu seiner Mannschaft, deren Aufgabe es ist, die richtigen Rückschlüsse zu ziehen aus der Vielzahl an Zahlen und Daten. Dabei greifen die Unfallforscher von Mercedes-Benz nicht nur auf die umfangreiche Datenbank zu, die aus den eigenen Analysen entsteht, sondern beispielsweise auch auf die Daten, die vom GIDAS-Projekt erhoben werden. GIDAS steht für German In-Depth Accident Study und ist eine Kooperation der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und der Forschungsvereinigung Automobiltechnik.

Die Unfallforscher werden aktiv, wenn im Umkreis von 200 Kilometern von Sindelfingen ein Mercedes-Benz oder ein smart in einen Unfall verwickelt werden. Die auffällige V-Klasse ist ihr Einsatzfahrzeug.
Die Unfallforscher werden aktiv, wenn im Umkreis von 200 Kilometern von Sindelfingen ein Mercedes-Benz oder ein smart in einen Unfall verwickelt werden. Die auffällige V-Klasse ist ihr Einsatzfahrzeug.
Heiko Bürkle leitet das Team der Unfallforschung seit 2001. Davor arbeitete er unter anderem als Gerichtsgutachter für Verkehrsunfälle.
Heiko Bürkle leitet das Team der Unfallforschung seit 2001. Davor arbeitete er unter anderem als Gerichtsgutachter für Verkehrsunfälle.
Die Erkenntnisse, die die Unfallforscher im Außeneinsatz gewinnen, fließen in eine umfangreiche Datenbank ein.
Die Erkenntnisse, die die Unfallforscher im Außeneinsatz gewinnen, fließen in eine umfangreiche Datenbank ein.
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Der hauseigene Fundus der Daimler-Unfallforscher ist aber auch deshalb so bemerkenswert groß, weil das Unternehmen als eines der ersten erkannt hat, dass echte Unfälle der Maßstab sein müssen, wenn der Straßenverkehr möglichst sicher sein soll. Das Team nahm im Frühjahr 1969 die Arbeit auf – erst ein Jahr später stellte der Deutsche Bundestag die Weichen für eine systematische Unfallforschung bei der BASt. Das Team von Heiko Bürkle fokussiert sich dabei auf Unfälle mit Beteiligung von Pkw der Marken Mercedes-Benz und smart. Seit 1972 gibt es bei Daimler auch eine Nutzfahrzeug-Unfallforschung, die deutschlandweit Unfälle von Mercedes-Benz Lkw untersucht, im Sommer 2015 kam außerdem eine speziell auf Transporter ausgerichtete Unfallforschung bei Mercedes-Benz Vans hinzu.

Rechtliche Grundlage für die Arbeit der Sindelfinger Unfallexperten ist damals wie heute ein Erlass des baden-württembergischen Innenministeriums. Dieser besagt, dass die Polizeidienststellen dem Unternehmen Unfälle mit Beteiligung von Mercedes-Benz Fahrzeugen melden dürfen. Die umfangreiche Unfallanalyse beginnt aber immer erst dann, wenn auch Halter beziehungsweise Fahrer des Pkw die Freigabe für die Untersuchung gegeben hat.

Technologie verändert das Unfallgeschehen

Gibt es aber, provokant gefragt, nach fünf Jahrzehnten überhaupt noch neue Erkenntnisse, die die Daimler-Unfallforscher liefern können? Haben sie nicht längst alles gesehen? Und ist es nicht Erfolg genug, dass der Straßenverkehr seit den 1970er Jahren statistisch gesehen so viel sicherer geworden ist? Heiko Bürkle kennt die Frage – und seine Antwort ist klar: „Wir werden gebraucht, weil immer neue Anforderungen hinzukommen. Zum einen, weil sich Bauteile, Systeme und Technologien verändern. Und zum anderen, weil die Erkenntnisse aus der Unfallforschung in die Entwicklung einfließen. Dadurch verändert sich das Unfallgeschehen. Ein Beispiel: In Deutschland nehmen Unfälle im Längsverkehr ab, also vor allem Auffahrunfälle. Natürlich liegt das vor allem daran, dass wir heute viel mehr Fahrzeuge mit Notbrems-Assistent oder aktivem Abstands-Assistent auf der Straße haben.“

„Die Unfallforschung wird gebraucht, weil immer neue Anforderungen hinzukommen.“

Heiko Bürkle Leiter der Unfallforschung von Mercedes-Benz

Heiko Bürkle und seine Mitarbeiter sind eng mit den Fahrzeugentwicklern vernetzt. „Und wenn uns im Außeneinsatz etwas Kritisches auffällt – zum Beispiel ein Bauteil, das nicht in Ordnung ist –, dann melden wir das natürlich unverzüglich an den Fachbereich. Das passiert aber nur sehr selten und das ist auch gut so“, sagt Heiko Bürkle. Jenseits von diesen Ausnahmen gibt es zwei Wege, auf denen Unfallforscher und Entwickler zusammenwirken: „Natürlich kommt es vor, dass wir gewisse statistische Auffälligkeiten bemerken und damit auf die Entwicklungsbereiche zugehen. Oft ist es aber auch umgekehrt: Die Entwicklungsbereiche kommen mit einer Idee auf uns zu. Wir geben dann eine Einschätzung: Ist der Unfalltyp, der adressiert werden soll, überhaupt relevant? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir mit dieser Idee Verletzungen oder sogar tödliche Unfälle verhindern können?“

Viele Systeme wurden von der Unfallforschung inspiriert

Mitunter ist es also ihre Aufgabe, eine potenzielle neue Technologie einem Realitätscheck zu unterziehen. Ein Beispiel ist die Ausstiegswarnung des Aktiven Totwinkel-Assistenten, die es bei Mercedes-Benz seit Kurzem gibt. Das System kann den Fahrer beim Öffnen der Tür warnen, wenn sich ein Verkehrsteilnehmer im toten Winkel befindet – so können zum Beispiel Kollisionen mit Radfahrern vermieden werden. Bevor die Technologie mit all ihren Feinheiten jedoch entwickelt wird, geht es um die statistische Relevanz. Im konkreten Fall ergab die Expertise der Unfallforscher, dass bei 84 Prozent der Unfälle dieses Typs Radfahrer beteiligt waren. Viele davon trugen, meistens durch den anschließenden Sturz auf die Straße, schwere oder sogar tödliche Verletzungen davon. Daraus ergibt sich: Die Technologie adressiert ein realistisches Unfallbild und kann dazu beitragen, Menschenleben zu retten. Das Votum der Unfallforscher lautet darum: Sie sollte entwickelt werden. Mit ihrer Expertise wollen Heiko Bürkle und sein Team den Entwicklern der Sicherheitstechnologien helfen, den Fokus richtig zu setzen: „Unfälle allgemein zu verhindern, das ist natürlich ein hehres Ziel“, sagt der Leiter der Unfallforschung, „aber das noch wichtigere Ziel ist es, Schwerverletze und Tote bei Verkehrsunfällen zu verhindern.“

Die Ausstiegswarnung des Aktiven Totwinkel-Assistenten ist ein System, in das die Expertise der Unfallforscher eingeflossen ist.
Die Ausstiegswarnung des Aktiven Totwinkel-Assistenten ist ein System, in das die Expertise der Unfallforscher eingeflossen ist.
Das System kann den Fahrer beim Öffnen der Tür warnen, wenn sich ein Verkehrsteilnehmer im toten Winkel befindet – so können zum Beispiel Kollisionen mit Radfahrern vermieden werden.
Das System kann den Fahrer beim Öffnen der Tür warnen, wenn sich ein Verkehrsteilnehmer im toten Winkel befindet – so können zum Beispiel Kollisionen mit Radfahrern vermieden werden.
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Die Liste der aktiven und passiven Sicherheitstechnologien, die mehr oder weniger unmittelbar vom realen Unfallgeschehen und der Arbeit der Unfallforscher inspiriert wurden, ist durchaus beachtlich. Gerade in den 1970er Jahren trugen die Erkenntnisse dazu bei, dass der Aufprallschutz im Fahrzeuginneren und die Belastbarkeit der Karosseriestruktur erheblich verbessert wurden. Später entstand beispielsweise das aktive Sicherheitssystem PRE-SAFE® auf Initiative der Unfallforscher – weil sie erkannt hatten, dass den meisten Unfällen kritische Fahrsituationen wie Schleudern oder plötzliches Ausweichen vorausgehen. Genau das nutzt PRE-SAFE® aus: Erkennt das System einen drohenden Unfall, bereitet es Insassen und Auto auf den bevorstehenden Aufprall vor, zum Beispiel durch die vorsorgliche, reversible Straffung der Sicherheitsgurte.

Die Stabilität der Fahrgastzelle schützt die Insassen

All diese Erkenntnisse haben dazu beigetragen, dass Verkehrsunfälle heutzutage häufig glimpflich ausgehen. So wie der Leitplanken-Crash des weißen E-Klasse Coupé: „Wir haben zum Glück überwiegend Unfälle mit leichten Verletzungen. Die Zahl der Knochenbrüche hat beispielsweise sehr stark abgenommen“, sagt Stefan Sellner. Wäre es unseriös, einzuschätzen, wie dieser Unfall hätte ausgehen können, wenn das Fahrzeug nicht ein brandneuer Mercedes gewesen wäre – sondern ein, sagen wir, 30 Jahre altes Auto? Stefan Sellner denkt nach. Dann gibt er eine seriöse, durchdachte Antwort: „Die Stabilität der Fahrgastzelle hat hier die Insassen vor dem zurückverschobenen Vorderrad geschützt. Man kann vereinfacht sagen: Bei einem 30 Jahre alten Auto hätte es passieren können, dass die Wucht des Aufpralls das Rad in den Fußraum gedrückt hätte. Das hätte schwere Fuß- oder Beinverletzungen beim Beifahrer zur Folge haben können. Bei diesem Unfallauto können Sie immer noch mit einem guten Gefühl in den Innenraum schauen: Der sieht aus wie neu.“

„Bei diesem Unfall hat die Stabilität der Fahrgastzelle die Insassen geschützt.“

Stefan Sellner Unfallforscher bei Mercedes-Benz

Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes unterstützen diese Einschätzung: Im Jahr 1970, diese Zahl hat negative Berühmtheit erlangt, starben 21.332 Menschen im deutschen Straßenverkehr – alleine in Westdeutschland, bei nur 15,1 Millionen zugelassenen Autos. 2018 gab es in Ost und West einen Kfz-Bestand von 56,5 Millionen – aber „nur“ noch 3.275 Verkehrstote. Natürlich ist jeder einzelne Tote immer noch einer zu viel. Und doch ist insbesondere die Gefahr, als Insasse eines Pkw tödlich zu verunglücken, so gering wie nie zuvor seit Beginn der Massenmotorisierung.

Längst erstreckt sich der Fokus der Unfallforscher darum auch auf Länder, in denen mehr Menschen ihr Leben im Straßenverkehr lassen. Mit ihrer SAFE ROADS-Kampagne  sind sie beispielsweise in Indien aktiv, wo sich das Verkehrsgeschehen in so gut wie allen Facetten von dem in Westeuropa unterscheidet. „Genau hier ist es wichtig, den Fokus auf dem Realunfallgeschehen zu haben. Daher ist Internationalisierung ein bedeutender strategischer Schwerpunkt für uns. Mit unseren Kolleginnen und Kollegen an den Entwicklungsstandorten in Indien und China arbeiten wir sehr gut und eng vernetzt zusammen“, sagt Jochen Feese. Er leitet die Abteilung im Entwicklungsbereich, zu der auch die Unfallforschung gehört.

Es geht den Unfallforschern nie um Schuld

Daneben arbeiten die Sindelfinger Unfall-Experten auch stärker proaktiv mit als in früheren Zeiten. Zum Beispiel als Berater bei der Konzeption von sicheren Elektroautos. „Da ist es unsere Aufgabe, aus dem realen Unfallgeschehen abzuleiten, welche Anforderungen es an die Sicherheit gibt“, erklärt Heiko Bürkle: „Es geht um Fragen wie: An welchen Stellen im Fahrzeug sollte ich keine Hochvolt-Bauteile einbauen, weil diese Bereiche bei Unfällen besonders häufig beschädigt werden? Oder: Woran erkennt das Fahrzeug, dass es jetzt gerade in einen Unfall verwickelt ist, bei dem es die Hochvolt- oder 48-Volt-Systeme ausschalten muss?“

Die bisherigen Erkenntnisse der Unfallforscher sind jedenfalls vielversprechend. Bei den Elektro- und Hybridfahrzeugen von Mercedes-Benz, die bislang in einen Unfall verwickelt waren und anschließend untersucht wurden, hat das Abschalten dieser Systeme einwandfrei geklappt. Natürlich gilt auch: Je mehr Elektroautos auf der Straße sind, desto schneller wächst der Erfahrungsschatz der Experten. Und die Unfallforschung ist ein Geschäft, das von genau dieser Erfahrung lebt. „Wir haben im Team auch nur eine geringe Fluktuation“, sagt Heiko Bürkle, „das ist natürlich auch eine Bestätigung. Es zeigt: Unser Job ist sehr facettenreich, kein Tag ist wie der andere.“ Er selbst leitet das Team seit 2001, davor arbeitete er als Unfallforscher bei der Firma Dekra und war unter anderem als Gerichtsgutachter im Einsatz.

Einen ganz entscheidenden Unterschied zwischen der Arbeit der Sachverständigen, die Verkehrsunfälle für die Justiz analysieren, und den Unfallforschern von Mercedes-Benz gibt es aber. Das ist auch Stefan Sellner wichtig. Bevor er sich dranmacht, das verbeulte weiße E-Klasse Coupé genauer unter die Lupe zu nehmen, sagt er ein paar Sätze, die im Gedächtnis bleiben: „Uns geht es nie um die Frage, wer Schuld am Unfall hatte. Nie darum, ob jemand womöglich die Vorfahrt missachtet hat oder zu schnell unterwegs war. Wir wollen herausfinden, was wir noch tun können, damit bei Unfällen niemand mehr ernsthaft zu Schaden kommt. Nur darum geht es uns.“

Die Unfallforschung von Mercedes-Benz hat ihre Arbeit im Jahr 1969 aufgenommen. Ihre Arbeit in den vergangenen 50 Jahren hat dazu beigetragen, den Straßenverkehr sicherer zu machen.
Die Unfallforschung von Mercedes-Benz hat ihre Arbeit im Jahr 1969 aufgenommen. Ihre Arbeit in den vergangenen 50 Jahren hat dazu beigetragen, den Straßenverkehr sicherer zu machen.
Die Unfallforschung von Mercedes-Benz hat ihre Arbeit im Jahr 1969 aufgenommen. Ihre Arbeit in den vergangenen 50 Jahren hat dazu beigetragen, den Straßenverkehr sicherer zu machen.
Die Unfallforschung von Mercedes-Benz hat ihre Arbeit im Jahr 1969 aufgenommen. Ihre Arbeit in den vergangenen 50 Jahren hat dazu beigetragen, den Straßenverkehr sicherer zu machen.
Die Unfallforschung von Mercedes-Benz hat ihre Arbeit im Jahr 1969 aufgenommen. Ihre Arbeit in den vergangenen 50 Jahren hat dazu beigetragen, den Straßenverkehr sicherer zu machen.
Die Unfallforschung von Mercedes-Benz hat ihre Arbeit im Jahr 1969 aufgenommen. Ihre Arbeit in den vergangenen 50 Jahren hat dazu beigetragen, den Straßenverkehr sicherer zu machen.
Die Unfallforschung von Mercedes-Benz hat ihre Arbeit im Jahr 1969 aufgenommen. Ihre Arbeit in den vergangenen 50 Jahren hat dazu beigetragen, den Straßenverkehr sicherer zu machen.
Die Unfallforschung von Mercedes-Benz hat ihre Arbeit im Jahr 1969 aufgenommen. Ihre Arbeit in den vergangenen 50 Jahren hat dazu beigetragen, den Straßenverkehr sicherer zu machen.
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Sven Sattler

hat in seiner persönlichen Unfallstatistik bislang zum Glück nur ein paar Einpark-Macken auf der Habenseite. Er hat nicht vor, das zu ändern. Und trotzdem findet er das Gefühl gut, in einem Auto zu sitzen, in das die Expertise aus fünf Jahrzehnten Unfallforschung eingeflossen ist.

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