Car-aoke | #3

„Driving Home for Christmas“ von Chris Rea.

Kaum ein Alltagsgegenstand hat die moderne Musik so sehr geprägt wie das Auto. In dieser Kolumne schreiben unsere Redakteure in losen Abständen über Songs, die eine Automobil-Geschichte erzählen. Manche davon haben es damit sogar in die Musik-Geschichte geschafft. Aber längst nicht alle ...

2 Min. Lesedauer

von Sven Sattler, Autor
erschienen am 17. Dezember 2019

Ich hatte vor zweieinhalb Jahren mal dieses Erlebnis der dritten Art: In Tel Aviv manövrierte ich einen Mietwagen durch ein viel zu enges Parkhaus. Auf dem oberen Parkdeck, wo ich das Auto abstellen sollte, gab es nicht einen Quadratzentimeter Schatten. Die August-Sonne brutzelte also schonungslos herunter, es hatte 40 Grad Celsius, was mich nach dem Rangieren durch die sieben Parkhaus-Ebenen darunter zusätzlich ins Schwitzen brachte. Und was macht genau in diesem Moment der lokale Radiosender? Er spielt „Last Christmas“. Ähnlich paradoxe Situationen entstehen auch immer wieder, weil eine Radiostation hier im Südwesten dann und wann einen „Wir spielen verrückt“-Tag einlegt, an dem der Sender auch die abgefahrensten Musikwünsche der Hörer spielt. Bei manchen Scherzkeksen steht gerade bei milden Temperaturen der bereits gewürdigte Weihnachts-Evergreen gaaaaanz weit oben. Haha. Ist das lustig.

Glücklicherweise handelt es sich bei solchen drolligen Musikwünschen ganz offenbar um Ausnahmen. Denn ich möchte lobend erwähnen, dass sich die Gesellschaft bei Weihnachtsliedern wesentlich disziplinierter gibt als bei Lebkuchen und Spekulatius. Während derlei Leckereien schon Ende August das Supermarktregal zieren und einem spätestens Ende Oktober der Appetit danach schon gründlich vergangen ist, beschränkt es sich bei weihnachtlichen Klängen (zumindest dem Bauch- bzw. Ohrengefühl nach) wirklich auf die Adventszeit. Das macht das Ganze gut erträglich. Darum pflege ich zu den meisten Weihnachtsliedern eine durchaus freundliche Beziehung – zu manchen sogar eine emotionale. Dazu gehört „Driving Home for Christmas“ von Chris Rea.

„Driving Home for Christmas“ ist eine musikalische Automobil-Geschichte, die besonders gut in die Vorweihnachtszeit passt.
„Driving Home for Christmas“ ist eine musikalische Automobil-Geschichte, die besonders gut in die Vorweihnachtszeit passt.

Sympathisch an dieser Nummer ist vor allem, dass sie den modernen Zauber der Weihnachtszeit so herrlich treffend beschreibt. Ich weiß, dass Menschen, die im Einzelhandel oder in der Krankenpflege arbeiten, das – zurecht! – anders sehen werden: Aber für mich ist die Zeit zwischen dem vierten Advent und dem Drei-Königs-Tag schlicht und ergreifend das Hochamt der Entschleunigung. Das öffentliche Leben schaltet zwei Gänge herunter, kaum E-Mails, kaum Verkehr, kaum Termine, dafür umso mehr Zeit für die Lieben. In seiner Weihnachtsgeschichte schickt Chris Rea, selbst Vater zweier Töchter, den Protagonisten auf die Autofahrt in diese muckelige Weihnachtszeit. So sehr freut er sich darauf, dass ihm selbst das Flackern der Bremslichter im unvermeidlichen Vorfeiertagsstau auf einmal vorkommt wie das Funkeln der Weihnachtslichter. Er singt bei bester Laune „Top to toe in tailbacks / Oh, I got red lights all around“, während er sich Meter für Meter vorarbeitet.

Und weil man im Stop-and-Go-Verkehr ja ausreichend Zeit hat, auch mal nach rechts und nach links zu schauen, endet der Song mit diesen wunderbaren Zeilen: „I take a look at the driver next to me / He’s just the same / He’s driving home for Christmas“. Mein Votum ist klar: Nach dem letzten Arbeitstag vor Heiligabend werde ich den Song auf dem Heimweg in Dauerschleife laufen lassen. Um mich dann im Stau umzuschauen und all jenen zuzulächeln, denen es vor Vorfreude auf die bevorstehende Weihnachtszeit (oder aufgrund des übermäßigen Lebkuchenverzehrs) genauso im Bauch kribbelt wie mir. Vielleicht sehen wir uns dann ja. Und falls nicht: Schöne Festtage!

Sven Sattler

schreibt gerne über Songs, die älter sind als er selbst. Und blafft dann Menschen, die fragend dreinschauen, an. Für gute Musik, sagt er, ist man nie zu jung.

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