19. Januar 2018 – Deep Learning im länderspezifischen, realen Straßenverkehr spielt eine zentrale Rolle auf dem Weg zum autonomen Fahren. Das zeigt der Mercedes-Benz Intelligent World Drive, der nach fünf Monaten auf der Consumer Electronics Show (CES) in Las Vegas endete.
Ein Erprobungsfahrzeug auf Basis der aktuellen S-Klasse absolvierte eine anspruchsvolle Studienreise auf fünf Kontinenten, um bei automatisierten Testfahrten im realen Verkehr zu „lernen“. Ob Zebrastreifen auf chinesischen Autobahnen, Rechtsabbiegen von der linken Fahrspur im australischen Melbourne, Fußgängerverkehr auf jeder Art von Straßen in Südafrika oder kurzzeitiges Fahrverbot in unmittelbarer Nähe von anhaltenden Schulbussen in den USA – auf jedem Kontinent stand die S-Klasse vor Herausforderungen, die Einfluss auf das Fahrverhalten künftiger autonomer Fahrzeuge haben werden. Diese länderspezifischen Besonderheiten müssen automatisierte und autonome Fahrzeuge kennen und in ihrem jeweiligen Kontext verstehen, um dann richtige Fahrentscheidungen treffen zu können.
Zudem unterstreicht der Intelligent World Drive, wie wichtig eine internationale Harmonisierung des Rechtsrahmens für das automatisierte und autonome Fahren sowie der Infrastruktur ist, insbesondere von Fahrspurmarkierungen und Verkehrsschildern.
Intelligent World Drive gibt Einblick in die Komplexität globaler Herausforderungen
Mit dem Erprobungsfahrzeug auf Basis einer teilautomatisierten S-Klasse wurden Testfahrten in Deutschland, China, Australien, Südafrika und den USA durchgeführt. Die Unterschiede in den Ländern geben einen kleinen Einblick in die Komplexität globaler Herausforderungen bei der Entwicklung von automatisierten und autonomen Fahrfunktionen. Insbesondere die landesspezifischen Besonderheiten bei Infrastruktur, Verkehrsregeln sowie dem Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer stellen sehr unterschiedliche Anforderungen an die Sensorik und die Algorithmen des Fahrzeugs. Zudem wird deutlich, wie wichtig hochauflösende Karten für die Entwicklung höherer Automatisierungsstufen werden könnten. Daher beteiligt sich die Daimler AG an dem Kartendienst HERE und arbeitet an der schnelleren Umsetzung und Aktualisierung noch präziserer Navigationsdaten.
Um künftige, höher automatisierte Fahrfunktionen an länderspezifische Nutzer- und Verkehrsgewohnheiten anzupassen, hat Mercedes-Benz bei der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt den Intelligent World Drive gestartet. In Deutschland liegt der Fokus auf dem spezifischen Fahrverhalten auf Autobahnen und in Stausituationen.
Die technische Seite des Intelligent World Drive - also das gezielte Sammeln von Situationen, Erfahrungen und Daten - ist aber nur ein Aspekt. Ebenso wichtig ist die gesellschaftliche Komponente: Hierbei geht es darum, weltweit mit den Menschen in Kontakt zu treten, Rückmeldungen und Meinungen zu erfahren und Diskussionen zur zukünftigen individuellen Mobilität anzuregen.
Die hohe Dichte von Autos, Zwei- und Dreirädern sowie Fußgängern und das damit einhergehende Verkehrsverhalten in chinesischen Städten stellen andere Anforderungen an automatisierte Fahrfunktionen als in Europa oder den USA. Daher ist für ausländische Autofahrer ein chinesischer Führerschein erforderlich, und auch automatisierte und autonome Fahrzeuge müssen ihre Tauglichkeit für diesen Markt vorab unter Beweis stellen.
Hinzu kommen Verkehrsschilder mit chinesischen Schriftzeichen und Spurmarkierungen, die in China eine andere oder gar mehrfache Bedeutung haben können. So sind beispielsweise kurze weiße Linien, die weltweit als Zebrastreifen bekannt sind, auch auf Autobahnen zu finden. Dort markieren sie allerdings keinen Fußgängerübergang, sondern den Mindestabstand zwischen den Fahrzeugen. Dies muss die Sensorik erkennen und richtig interpretieren, ebenso wie Tempolimits, die sich von Fahrspur zu Fahrspur unterscheiden können. Eine weitere Herausforderung: Parkplätze haben die unterschiedlichsten Formen und sind oft voller Hindernisse, die für Sensoren schwer zu erkennen sind.
Diese landesspezifischen Besonderheiten zeigen, wie wichtig es ist, auf dem Weg zum autonomen Fahren weltweit Erkenntnisse im realen Verkehrsgeschehen zu sammeln und automatisierte Fahrfunktionen an die jeweiligen Verkehrsgewohnheiten und -bedingungen anzupassen. In den vergangenen sieben Jahren hat Mercedes-Benz allein zur Feldabsicherung von Fahrerassistenzsystemen mit 175 Erprobungsträgern rund 5.100 Testfahrten weltweit durchgeführt, einen großen Teil davon im Rahmen kundennaher Fahrerprobungen. Auf rund 9,5 Millionen Kilometern wurden dabei die Leistungsfähigkeit der Fahrassistenzsysteme bewertet und für ihre kontinuierliche Weiterentwicklung insbesondere in Realverkehrs-Situationen mehr als 1,2 Millionen Messungen durchgeführt.
In China konzentriert sich die Testfahrt auf das Fahrverhalten im dichten Verkehr der Millionenmetropole Shanghai.
Rechts abbiegen von der linken Spur, blinkende Geschwindigkeitsbegrenzung, Kängurus springen über die Straße: Der Straßenverkehr in Australien birgt einige ganz besondere Herausforderungen. Automatisierte und autonome Fahrzeuge müssen diesen Besonderheiten Rechnung tragen. Auf der dritten Etappe des Mercedes-Benz Intelligent World Drive hat das Testfahrzeug, das auf der Serien-Limousine der S-Klasse basiert, automatisierte Testfahrten auf Landstraßen, Autobahnen und in der Stadt Melbourne zu bewältigen.
Statt der klassischen Geschwindigkeitsbeschilderung aus Metall nutzt das australische Straßenverkehrssystem zunehmend elektronische Displays mit variablen Geschwindigkeitsbegrenzungen, die sowohl den Verkehrsfluss als auch die Sicherheit verbessern sollen. Sie sind mit einer leuchtend weißen LED-Anzeige, einem roten LED-Ring und einer gelben LED-Warnleuchte ausgestattet und können neben Geschwindigkeitsbegrenzungen auch einfache Symbole und Buchstaben anzeigen. In einigen Fällen werden sie nacheinander positioniert, um einen dynamischen Verkehrsfluss zu gewährleisten, und können ihre Anzeige innerhalb von Sekundenbruchteilen ändern. Diese Schilder sind eine große Herausforderung für die Leistungsfähigkeit der Digitalkamera und die Qualität der digitalen Kartendaten, die es ermöglichen, dass automatisierte Fahrfunktionen wie Aktiver Geschwindigkeitslimit-Assistent und Aktiver Abstands-Assistent DISTRONIC zuverlässig funktionieren.
Der Straßenverkehr in Südafrika hält einige ganz besondere Herausforderungen bereit: unterschiedliche Straßenbeläge, Wildtiere auf der Landstraße und viele Fußgänger sowohl im Stadtverkehr als auch auf Nationalstraßen, die oft völlig überraschend die Fahrbahn überqueren. Automatisierte und autonome Fahrzeuge müssen diesen Besonderheiten Rechnung tragen und zuverlässig reagieren. Auf der vierten Etappe des Mercedes-Benz Intelligent World Drive stellt sich das Erprobungsfahrzeug, das auf der Serien-Limousine der S-Klasse basiert, bei automatisierten Testfahrten in der Provinz Westkap und in Kapstadt den südafrikanischen Eigenheiten.
Ob Stadt oder Land – in Südafrika sind viele Fußgänger unterwegs. Teilweise laufen sie auf der Straße und oft überqueren sie völlig unerwartet die Fahrbahn. Im extrem dichten Stadtverkehr in Kapstadt wird Autofahren so zur wahren Präzisionsaufgabe – insbesondere in engen Gassen, wo die Gehwege meist auf beiden Seiten zugeparkt sind. Aber selbst auf Nationalstraßen außerhalb von Ortschaften und sogar auf der Autobahn müssen Autofahrer stets mit querenden Fußgängern rechnen. Entsprechend hoch sind die Unfallzahlen. Im Jahr 2016 starben 5.410 Fußgänger im Straßenverkehr. Das sind 38 Prozent aller Verkehrstoten. Dieses Fußgängerverhalten erfordert eine zusätzliche erhöhte Aufmerksamkeit und stellt damit auch besondere Anforderungen an die Sensorik von automatisierten und autonomen Fahrzeugen. Kameras und Radarsysteme müssen die Passanten erkennen und ihre Bewegung richtig interpretieren, damit das Fahrzeug im Notfall in Millisekunden reagieren kann.
Eine weitere Besonderheit sind Verkehrszeichen, die es nur in den 15 Mitgliedsstaaten der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrikas (Southern African Development Community, SADC) gibt, wie in Südafrika, Namibia, Botswana oder auf den Seychellen. So zeigt beispielsweise das Halteverbotsschild ein durchgestrichenes 'S' in einem roten Kreis, und das Einfahrverbotsschild besteht aus zwei horizontalen Balken in einem roten Kreis. Zudem ist die Beschilderung im südafrikanischen Straßenverkehr oft lückenhaft. Kreuzungen, an denen angehalten werden muss, sind nicht immer mit einem Stopp-Schild gekennzeichnet, sondern teilweise nur mit der breiten, weißen Querlinie auf der Fahrbahn. Auch Warnschilder vor den weit verbreiteten „Bumpern“ zur Geschwindigkeitsbegrenzung sind nicht überall vorhanden oder so nah vor den Hindernissen platziert, dass kaum Reaktionszeit bleibt.
Die fehlende Beschilderung stellt extreme Herausforderungen an die Leistungsfähigkeit der Kamera- und Radarsysteme sowie die Qualität digitaler Kartendaten, damit automatisierte Fahrfunktionen wie der Aktive Abstands-Assistent DISTRONIC mit streckenbasierter Geschwindigkeitsanpassung verlässlich funktionieren. Auf der Validierung des aktuellen, digitalen Kartenmaterials von HERE liegt daher bei den Testfahrten am Westkap ein besonderer Fokus – insbesondere im Hinblick auf Kreuzungen, an denen das Fahrzeug halten muss, und auf Verkehrshindernisse wie Bodenschwellen.
Wenn der Schulbus hält, müssen auch alle anderen Fahrzeuge in der Umgebung anhalten. Die Verkehrszeichen zur Geschwindigkeitsbegrenzung sind nirgendwo sonst auf der Welt zu finden. Darüber hinaus existieren eigene Fahrspuren für Fahrgemeinschaften, Fahrbahnmarkierungen aus erhöhten Kunststoffpunkten statt farbigen Linien sowie Gesetze, die rechts überholen erlauben. Der Straßenverkehr in den USA stellt viele spezifische Anforderungen an die Sensorsysteme und Algorithmen von automatisierten und autonomen Fahrzeugen. Auf der letzten Etappe des Mercedes-Benz Intelligent World Drive in Kalifornien und Nevada sammelte das Erprobungsfahrzeug, das auf der Serien-Limousine der S Klasse basiert, wertvolle, USA-spezifische Informationen für die Weiterentwicklung von Fahrassistenzsystemen.
Die automatisierten Testfahrten im Großraum Los Angeles und anschließend zur Consumer Electronics Show (CES) nach Las Vegas konzentrierten sich auf die Bewertung des Fahrverhaltens im dichten Stadtverkehr und auf Highways. Im Fokus stand dabei insbesondere die Erkennung von Schulbussen, Fahrbahnmarkierungen und Geschwindigkeitsschildern.
Ebenso anspruchsvoll für Kamera- und Radarsysteme ist die Erkennung der separaten Carpool-Fahrspuren, die nur Fahrgemeinschaften ab mindestens zwei Personen nutzen dürfen. Die sogenannten HOV Lanes (High-Occupancy Vehicle Lane) befinden sich auf mehrspurigen Interstates und Freeways in städtischen Bereichen. Für die Sensorik und die Algorithmen von automatisierten und autonomen Fahrzeugen ist es schwierig, sie als spezielle Fahrspuren zu erkennen und von normalen Spuren oder Ausfahrten zu unterscheiden. Hinzu kommt, dass sie nicht auf einer bestimmten Fahrspur zu finden sind, sondern links, rechts oder in der Mitte sein können. Auch ihre Markierung ist nicht einheitlich. HOV Lanes können sowohl durch zwei gelbe, durchgezogene Linien als auch durch Metallplanken von den anderen Spuren getrennt sein oder sie sind mit aufgemalten Rauten markiert. Zukünftige, autonome Fahrzeuge müssen darüber hinaus die Anzahl ihrer Passagiere kennen und wissen, ob sie die Carpool-Spur nutzen dürfen. Denn in Ballungsgebieten gibt es auch HOV Lanes, die nur für Fahrgemeinschaften ab drei (z. B. Los Angeles) oder sogar ab vier Personen (z. B. New York) erlaubt sind.