Die Entstehung des MBUX Hyperscreen

Hyperscreen_GPEC

Hightech-Highlight.

Alles beginnt im Jahr 2016. Zwei Mercedes-Benz Mitarbeiter aus unterschiedlichen Bereichen werden mit einem äußerst spannenden Projekt betraut. Sie sollen aus einer Designvision Wirklichkeit werden lassen. Es folgen fünf Jahre voller Leidenschaft und intensivem Teamwork mit einem Entwicklungspartner und dessen Zulieferern, bis der MBUX Hyperscreen im neuen Mercedes-Benz EQS endlich in Serie geht.

8 Min. Lesedauer

von Rasmus Muttscheller,
erschienen am 16. Dezember 2021

Aus einer Vision Wirklichkeit werden lassen – als Angestellter eines innovativen Automobilkonzerns zählt das zweifellos zu den faszinierendsten und herausforderndsten Aufgaben. Und genau so lautet im Jahr 2016 der Auftrag an Entwicklungsingenieur Matthias Pohl und seinen Kollegen Robert Haidenthaler, Qualitätsingenieur im Einkauf. Von einem Tag auf den anderen trägt das Duo aus zwei völlig unterschiedlichen Fachbereichen die Verantwortung für ein ganz besonderes Projekt: die Vorbereitung der Serienfertigung des so genannten MBUX Hyperscreens für die neue vollelektrische Luxuslimousine EQS. Der MBUX Hyperscreen soll ein Beispiel für die Symbiose von digitalem und analogem Design sein. „Ausgangspunkt war die Vision, die ich im ersten Moment gar nicht glauben konnte“, erinnert sich Robert Haidenthaler an den Kick-off. „Als es etwas konkreter wurde und ich das erste A-Muster als Prototyp gesehen habe, wurden mir die Dimension und Tragweite dieses Vorhabens so richtig bewusst. Beeindruckend, welchen Mut und welche Entschlossenheit unser Unternehmen zeigt.“

Der erste Prototyp des Hyperscreens
Der erste Prototyp des Hyperscreens

Schnitt. Fünf Jahre später: Mehrere Displays gehen scheinbar nahtlos ineinander über und bilden unter einem gemeinsamen Deckglas ein einheitliches Bildschirmband. Als Verbindung von digitaler zu physischer Welt sind analoge Lüftungsdüsen in die große Fläche des MBUX Hyperscreens eingelassen – Ziel erreicht: die Vision ist Wirklichkeit. Gorden Wagener, Chief Design Officer Daimler Group, beschreibt es Anfang 2021 im Rahmen der Weltpremiere des Hyperscreens auf der Elektronik-Messe CES in Las Vegas so: „Mit unserem MBUX Hyperscreen wird eine Designvision Wirklichkeit. Wir verbinden Technologie mit Design auf faszinierende Weise. Das bietet dem Kunden eine beispiellose Benutzerfreundlichkeit.“

Der MBUX Hyperscreen im Mercedes EQS.
Der MBUX Hyperscreen im Mercedes EQS.
Der MBUX Hyperscreen ist ein Beispiel für die Symbiose von digitalem und analogem Design.
Der MBUX Hyperscreen ist ein Beispiel für die Symbiose von digitalem und analogem Design.
Der Hyperscreen besteht aus einer einzigen leicht gewölbte Glasfläche ohne Übergänge - also ein Seamless-Design ohne Nähte, Übergänge oder Anstöße. Dahinter lassen sich drei hochauflösende Displays platzieren.
Der Hyperscreen besteht aus einer einzigen leicht gewölbte Glasfläche ohne Übergänge - also ein Seamless-Design ohne Nähte, Übergänge oder Anstöße. Dahinter lassen sich drei hochauflösende Displays platzieren.
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Frage der technischen Umsetzbarkeit

Doch wie kam es dazu? Dazu gehen wir nochmal zurück zum Anfang: Der Weg zur dieser beispiellosen Benutzerfreundlichkeit beginnt 2016 mit einer Art Schicksalsfrage. Ist es technisch überhaupt möglich, anstelle einer klassischen Armaturentafel mit Kombiinstrument und vielen Bedienschaltern einen einzigen, durchgängigen Touchscreen in das Cockpit eines Fahrzeugs zu integrieren? Die Antwort lautet: Jein. Denn nach Stand der damaligen Technik war ein Display von der linken bis zu zur rechten Dachsäule nicht umsetzbar - selbst heutige 77“ OLED-Fernseher basieren auf einer etwas anderen Technologie. Darüber hinaus konnte die Verfügbarkeit der erforderlichen Anlagentechnik zum „optischen Bonden“ (Verkleben) eines derart großen Displays auf einem gekrümmten, und automotive-fähigen Deckglas im Projektzeitrahmen nicht sichergestellt werden.

2016 aber schon machbar ist eine einzige leicht gewölbte Glasfläche ohne Übergänge - also ein Seamless-Design ohne Nähte, Übergänge oder Anstöße. Dahinter lassen sich drei hochauflösende Displays platzieren: ein LCD-Kombiinstrument (12,3 Zoll) hinter dem Lenkrad und zwei OLED-Displays – eines in der Mitte (17,7 Zoll) und eines für den Beifahrer (12,3 Zoll).

Robert Haidenthaler, Qualitätsingenieur im Einkauf (links) und Entwicklungsingenieur Matthias Pohl (rechts) begutachten das 17,7 Zoll große OLED-Zentraldisplay bei Tageslicht.
Robert Haidenthaler, Qualitätsingenieur im Einkauf (links) und Entwicklungsingenieur Matthias Pohl (rechts) begutachten das 17,7 Zoll große OLED-Zentraldisplay bei Tageslicht.

Bei der OLED-Technologie sind die einzelnen Bildpunkte selbstleuchtend und bieten deshalb eine hohe Farbbrillanz. Nicht angesteuerte Bildpixel bleiben abgeschaltet und wirken dadurch tiefschwarz. Die Herausforderung liegt darin, die Randbereiche der drei Displays und die dunklen Flächen dazwischen, den so genannten Schwarzdruck, einheitlich aussehen zu lassen. Und das aus verschiedenen Blickwinkeln und unter allen denkbaren Lichtbedingungen, damit alles wie aus einem Guss erscheint.

Suche nach einem innovativen Partner

Um die beste Lösung zu erarbeiten, wurden mit mehreren potenziellen Entwicklungspartnern Gespräche geführt. Die Suche nach dem strategischen Partner für diese komplexe technische Aufgabe führte zu einem südkoreanischen Elektronikkonzern mit großer Innovationskraft: LG Electronics. „Den Grundstein für die Zusammenarbeit haben wir 2016 gelegt“, sagt Robert Haidenthaler. Bei einem Managementtermin in Seoul gibt es eine erste Vereinbarung mit dem späteren Serien-Lieferanten und Hersteller des MBUX Hyperscreen. Alles steht unter strenger Geheimhaltung, insbesondere die neuartige Form des Hyperscreens.

Diesen Namen hat das Hightech-Teil damals noch nicht. „Mal wurde es aufgrund seiner Form als ‚Glas-Adler’ bezeichnet, mal als ‚Powerwall’“, verrät Matthias Pohl. Für den Entwickler beginnt das geheime Hyperscreen-Projekt in Böblingen mit einem Workshop zu Display-Konzepten. Mit dabei sind viele Fachbereiche: Design, Display, Licht, Interieur, Cockpit, Einkauf, Qualität …, dazu Experten von LG Electronics aus Südkorea. Im Rahmen des Workshops werden aktuelle Display-, Licht- und Zierteiltechnologien vorgestellt und es wird über die technische Umsetzung und Serientauglichkeit des Hyperscreen diskutiert. Danach startet für Matthias Pohl eine neue Arbeitsphase: „Ich habe sechs Monate lang intensiv am Lastenheft gearbeitet, im engen Austausch mit LG Electronics und intern mit den beteiligten Bereichen.“

• Breite: 141 cm
• Gewicht: 7,3 kg
• LCD-Kombidisplay: 12,3 Zoll
• OLED-Zentraldisplay: 17,7 Zoll
• OLED-Beifahrerdisplay: 12,3 Zoll
• Materialmix: Glas, Kunststoff, Aluminium, Magnesium, Klebstoff, Lack sowie Spezialmaterialien für die drei Displays
• mehr 3.000 Einzelteile
• Ort des Einbaus in den EQS: Factory 56, Sindelfingen

Genau hinschauen lohnt sich

Die Technik hinter der Scheibe ist das eine, das Glas selbst das andere: Das große Deckglas wird bei Temperaturen um 650°C dreidimensional gebogen. Der so genannte Mould-Prozess vermeidet sichtbare Formnähte und ermöglicht so über die gesamte Fahrzeugbreite den verzerrungsfreien Blick auf die Displayeinheit. Das für den Hyperscreen ausgewählte Spezialglas bearbeitet ein Glasveredler mit großem Aufwand. „Um den gewünschten Gesamteindruck mit so wenig Spiegelungen wie möglich zu erzielen, wird das Deckglas mit sechs verschiedenen Metalloxiden bedampft“, beschreibt Matthias Pohl.

Die Herausforderung liegt darin, die Randbereiche der drei Displays und die dunklen Flächen dazwischen, den so genannten Schwarzdruck, einheitlich aussehen zu lassen.
Die Herausforderung liegt darin, die Randbereiche der drei Displays und die dunklen Flächen dazwischen, den so genannten Schwarzdruck, einheitlich aussehen zu lassen.

Ein durchgehender Frontrahmen aus Kunststoff umfasst das Glas des Hyperscreens. Sein sichtbarer Teil wird in einem aufwändigen dreischichtigen Verfahren im Farbton „Silver Shadow“ lackiert. Durch eine extrem dünne Zwischenschicht erreicht dieses Lacksystem eine besonders hochwertige Oberfläche und führt zu einem metallischen Glanz, der die Glasfläche harmonisch abschließt.

Während des Produktionsprozesses werden knapp einhundert unterschiedliche Kriterien auf Einhaltung der jeweils festgelegten Toleranzen geprüft. Die Qualität muss nicht nur beim direkten Lieferanten stimmen, der alle Komponenten zum Hyperscreen zusammenfügt: Ganz entscheidend ist auch das Zusammenspiel mit den Display-Herstellern und deren Zulieferern. Fachleute nennen so etwas gerne: anspruchsvolles Lieferkettenmanagement.

Schön und sicher

Neben der Optik liegt das Augenmerk der Ingenieure natürlich auf den inneren Werten, besonders in puncto Sicherheit. Elektronik in einem Auto muss in einem viel größeren Temperaturbereich funktionieren als auf der heimischen Couch: von -40 bis +85 Grad Celsius. Also auch dann, wenn der EQS mehrere Stunden abgeschlossen in der Sonne stand. Diese harten Bedingungen werden während der Entwicklungsphase des Hyperscreens in so genannten Klimakammern am Standort Sindelfingen ausgiebig getestet. Außer Hitze und Kälte spielen auch die enormen Beschleunigungskräfte eines fahrenden Autos eine wichtige Rolle für die Sicherheit. „Der Hyperscreen ist mit fünf Haltern direkt mit dem Cockpit-Querträger verbunden“, erläutert Matthias Pohl. „Nicht einfach nur mit normalen Haltern, sondern mit speziellen Halterungen, die durch ihre wabenförmige Struktur bei einem Crash gezielt nachgeben können.“ Zu den weiteren Sicherheitsmaßnahmen zählen unter anderem Sollbruchstellen neben den seitlichen Luftausströmern.

Deckglas-Inspektion im Reinraum beim Glasveredler in Osan (Korea).
Deckglas-Inspektion im Reinraum beim Glasveredler in Osan (Korea).

Auslandseinsätze als Türöffner

Die knapp fünfjährige Projektarbeit teilt Qualitätsingenieur Robert Haidenthaler in zwei Hälften: „Vor der Corona-Pandemie waren wir häufig in Asien unterwegs, zu Beginn sehr oft am Entwicklungsstandort bei Seoul, später auch bei Sub-Lieferanten in Japan, China, Korea und Vietnam und in der späteren Fertigungsanlage in der Nähe der Halong-Bucht.“ Diese intensiven Vor-Ort-Aktivitäten der ersten drei Jahre hätten sich nach Ausbruch der Pandemie ausgezahlt. Denn nach der letzten Geschäftsreise im Februar 2020 bleiben für den Austausch mit dem Lieferanten nur digitale Alternativen. Der direkte Zugang zu den Entwicklern in Südkorea fällt plötzlich weg: „Wichtig für die südkoreanische Geschäftskultur ist nach einem anstrengenden Arbeitstag das gemeinsame Abendessen“, berichtet auch Matthias Pohl. „In ungezwungener Atmosphäre kommen da neben lokalen Speisen und Getränken auch Themen auf den Tisch, die tagsüber oft nicht so einfach besprochen werden können.“ Robert Haidenthaler schätzt die Geschäftsreisen nicht nur wegen des Austauschs mit den südkoreanischen Experten: „Durch die intensive Zusammenarbeit und die vielen Auslandseinsätze ist zwischen Matthias und mir eine tolle Freundschaft entstanden.“

Gemeinsam zum Erfolg

Diese enge Verbindung hilft den beiden Kollegen bei ihrer Aufgabe. Denn: „Die Bereiche Entwicklung und Einkauf stehen sich ja nicht selten argumentativ gegenüber, bei uns war das anders“, räumt Matthias Pohl ein weit verbreitetes Vorurteil aus dem Weg. „Wir haben von Anfang an vertrauensvoll als Tandem zusammengearbeitet.“ Erfolgsrezept der beiden: miteinander reden. Robert Haidenthaler drückt es so aus: „Vom Mund halten allein entsteht keine so tolle Komponente.“ Auch wenn die beiden intern oft lange und kontrovers diskutieren, sprechen sie nach außen gegenüber dem Lieferanten immer mit einer Stimme. Dieses Vorgehen zahlt sich während des gesamten Entwicklungsprozesses aus: Alle Reifegrad-Ziele werden im Zeitplan eingehalten.

MBUX Hyperscreen im neuen EQS

Noch einmal Schnitt. Denn was wir noch nicht wissen: Wie ist die Idee zum Hyperscreen eigentlich entstanden? Mit der Einführung von MBUX (Mercedes-Benz User Experience) in der aktuellen A-Klasse hat sich die Bedienung eines Mercedes-Benz radikal verändert. Inzwischen sind weltweit fast vier Millionen Pkw von Mercedes-Benz damit unterwegs – und auch der Van-Bereich setzt auf MBUX. Mit der neuen S-Klasse ist die zweite Generation des lernfähigen Systems an den Start gegangen, mit der vollelektrischen Luxuslimousine EQS und dem für sie entwickelten MBUX Hyperscreen folgt der nächste logische Schritt.

Während des Produktionsprozesses werden knapp einhundert unterschiedliche Kriterien auf Einhaltung der jeweils festgelegten Toleranzen geprüft.
Während des Produktionsprozesses werden knapp einhundert unterschiedliche Kriterien auf Einhaltung der jeweils festgelegten Toleranzen geprüft.
Der Hyperscreen wird in der Factory 56 in Sindelfingen in den EQS eingebaut.
Der Hyperscreen wird in der Factory 56 in Sindelfingen in den EQS eingebaut.
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Blick in den Rückspiegel

Bereits im Jahr 1996 zeigte Mercedes-Benz auf dem Pariser Autosalon, wie ein durchgängiger Bildschirm über die gesamte Breite des Cockpits eines Tages aussehen könnte. Das Konzeptfahrzeug Mercedes-Benz F 200 Imagination präsentierte neben einem neuen Ergonomie-Konzept auf Basis von Drive-by-Wire-Technik auch ein vollständig neues Cockpit-Design mit mehreren Bildschirmen hinter einem gemeinsamen Deckglas.

Das Internet im Auto kündigte sich damals ebenfalls an, wie der folgende Abschnitt eines Pressetextes verrät: „’In-Car-Entertainment’ ist das verwendete Schlagwort für Radio, Cassettenspieler, CD-Spieler und Autotelefon. […] Dazu kommen immer mehr Navigationssysteme. Sogar völlig Internet-fähige Elektroniksysteme für das Auto gibt es schon, zumindest in den Forschungslabors.“

Heute, 25 Jahre später, sind Kassetten, CDs und das klassische Autotelefon bereits wieder aus den Fahrzeugen verschwunden. Dafür sind Autos im Jahr 2021 ständig online und per Car-to-X-Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmern und der Infrastruktur vernetzt. Nutzerfreundliche Bediensysteme wie das wegweisende MBUX von Mercedes-Benz sind an Bord und werden zum täglichen Begleiter, der MBUX Hyperscreen revolutioniert die Verbindung zwischen Mensch und Auto. Solche hochauflösenden Bildschirme, Head-up-Displays mit VR-Anzeigen, eine intelligente Sprachsteuerung, sowie zahlreiche Sensoren sorgen dafür, dass das Autofahren immer komfortabler und sicherer wird. Und die nächste Vision steht bereits in den Startlöchern: autonomes und unfallfreies Fahren.

Rasmus Muttscheller

fährt an sonnigen Wochenenden gerne mit Autos, die noch Tachometer mit Nadel haben. Und Drehknöpfe und Schieberegler für Radio und Lüftung. Und kein Navi. Weil das so wunderbar entschleunigt.

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