60 Jahre Crashtests bei Mercedes-Benz

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Schrott sei Dank!

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Daimler-Blog veröffentlicht.

Ein Haufen Blech – nur das bleibt auf den ersten Blick, wenn unsere Entwickler mit einem der Crashtests durch sind. Und trotzdem fahren sie unsere Fahrzeuge immer wieder aufs Neue gegen die Wand. Was 1959 ein Meilenstein im Rahmen der Fahrzeugsicherheit war, ist heute Arbeitsalltag für die Experten. Denn seit den ersten systematischen Crashversuchen hat sich viel getan. Aber was eigentlich?

10 Min. Lesedauer

von Melanie Spremberg, Autorin
erschienen am 25. September 2019

Im Technologiezentrum für Fahrzeugsicherheit (TFS) in Sindelfingen knallt es mehrmals am Tag. Insgesamt rund 1000-mal pro Jahr. So oft fahren die Kolleginnen und Kollegen im TFS ein Fahrzeug gegen die Wand – oder gegen ein anderes Fahrzeug. Mit voller Absicht? Ja. Aber nicht aus Lust am Vandalismus, sondern im Auftrag der Sicherheit: Denn in dem Gebäude werden nicht nur die gesetzlich vorgeschriebenen oder von Ratinginstituten geforderten Crashversuche durchgeführt, sondern auch etliche firmeneigene Tests zum Thema Fahrzeugsicherheit.

Egal ob Pkw, Lkw oder Busse – hier findet man Überreste von so ziemlich jedem Fahrzeug, das der Daimler-Konzern zu bieten hat. Aber wie läuft so ein Crashtest eigentlich ab? Und wie sah das Ganze noch vor 60 Jahren aus, als Daimler als weltweit erster Automobilhersteller systematische Crashtests einführte? Ich wollte es wissen und habe dem Technologiezentrum für Fahrzeugsicherheit in Sindelfingen einen Besuch abgestattet.

Die weiten Hallen der Fahrzeugsicherheit

Das Technologiezentrum für Fahrzeugsicherheit hat eine Geschossfläche von 55.000 Quadratmeter und eine 8.100 Quadratmeter große Versuchshalle. Als ich die weiten Hallen betrete, treffe ich auf modernste Technik, riesige Lichtanlagen und gigantische Betonbauten.

Für die Unfalltests nutzt das Team so genannte Crash-Blöcke – große Betonklötze mit verschiedenen daran montierten Aufbauten, die die Entwickler „Crashbarrieren“ nennen. Die Barrieren können zum Beispiel starr oder verformbar sein. Im letzteren Fall dienen blau lackierte Aluminiumwaben dazu, den Vorbau eines anderen Fahrzeuges nachstellen.

„Unsere fünf Crash-Blöcke wiegen zwischen 100 und 500 Tonnen“, sagt Matthias Struck. Er ist als Entwickler in der Abteilung Produktanalyse und Unfallrekonstruktion für die Kommunikation zuständig. „Den schwersten Block nutzen wir zum Beispiel für die Unfalltests mit Lkw“, sagt er während er mich durch die Hallen des Technologiezentrums für Fahrzeugsicherheit führt. Rund um uns herum stehen hochmoderne Lichtanlagen wie in einem überdimensionalen Fotostudio.

Und sowas in der Art ist es im Prinzip auch: „Während eines Unfalltests schießen wir 1000 Bilder pro Sekunde. So können wir wirklich jede Millisekunde anschließend rekonstruieren. Und dafür brauchen wir das Licht“, sagt Matthias Struck. Die Anlagen sind alle vollautomatisch programmiert: Je nach Crashposition, die in den Computer eingegeben wird, fahren die Anlagen zu der gewünschten Position. „So fährt das Licht ganz automatisch zum Crashblock“. Ich fühle mich wie in einem Science-Fiction-Film.

Der erste Crashtest bei Mercedes-Benz

Vor ziemlich genau 60 Jahren, beim ersten Crashversuch bei Mercedes-Benz, lief das hingegen noch ohne viel Technik und ohne viel Schnickschnack. Und dennoch wurde hier in Sindelfingen wieder einmal Automobilgeschichte geschrieben:

Es war der 10. September 1959, als ein Mercedes-Benz 190 mit „Heckflossen-Karosserie“ auf ein 17 Tonnen schweres Hindernis prallte. Die Türen auf der Fahrerseite hatte man entfernt, um die Bewegung der Schaufensterpuppe … oh, Verzeihung … um die Bewegung des „Fahrers“ filmen zu können. Drei Säcke, gefüllt mit Sand, gehörten außerdem zu den Passagieren.

…und es hat BUMM gemacht: Ohne Türen – und selbstverständlich ohne echte Passagiere –, aber mit historischer Wirkung, legte ein Mercedes-Benz Typ 190 am 10. September 1959 den Grundstein für die Fahrzeugsicherheit von heute.
…und es hat BUMM gemacht: Ohne Türen – und selbstverständlich ohne echte Passagiere –, aber mit historischer Wirkung, legte ein Mercedes-Benz Typ 190 am 10. September 1959 den Grundstein für die Fahrzeugsicherheit von heute.

Wie der Mercedes-Benz 190 bei diesem ersten Crashtest ins Rollen kam, wo doch eine Schaufensterpuppe aus einem benachbarten Kaufhaus am Lenkrad saß? Mit einer Seilwinde, die eigentlich für den Start von Segelflugzeugen konstruiert war. Kurz vor dem Aufprall wurde das Seil vom Wagen getrennt, so dass während des Aufpralls keine Seilkraft einwirken konnte. Später benutzte man zum Teil auch ein zweites Auto, das den Testwagen von hinten anschob. Wie es nach den Crashtests um das Wohlbefinden der Schaufensterpuppe bestellt war, ist nicht überliefert.

„Bauen wir doch eine Wasserdampf-Rakete!“

Es folgten weitere Frontalaufprall-Versuche gegen ein starres Hindernis. 1962 dann die nächste Entwicklungsstufe – benannt nach einer, sagen wir, zündenden Idee: „Man nennt ihn auch den Crash-Test mit Raketenantrieb“, erzählt Gerhard Heidbrink. Er arbeitet in den Archiven von Mercedes-Benz Classic. Mit anderen Worten: Er ist ein echter Experte für die Geschichte der Marke mit dem Stern. „1962 haben die Entwickler das Anschieben des Testfahrzeugs weiter standardisiert, indem man eine Heißwasserrakete als Antrieb verwendete.“

Klingt ziemlich kompliziert, war es aber eigentlich gar nicht: „Sie füllten Wasser in einen Kessel und heizten es auf 260 Grad auf, was zu einem enormen Druck führte. Sobald sie dann das Ventil öffneten, strömte der überhitzte Wasserdampf durch eine Düse aus“, erklärt Gerhard Heidbrink. „Das Ganze wirkte wie eine Rakete.“ Sobald die benötigte Geschwindigkeit erreicht war, wurde das Fahrzeug ausgeklinkt und die Rakete abgebremst.

Seitdem feilt Mercedes-Benz stetig an seinen Methoden: Während die Entwickler bei den ersten Crashtests in Sindelfingen Schaufensterpuppen und Sandsäcke auf die Sitze schnallten, nutzen sie seit 1968 Crashtest-Dummys mit einer speziellen Messtechnik, welche die Belastungen auf den Dummy bei einem Zusammenstoß erfasst. Zumindest tut sie das heute, mit etwa 200 Sensoren. Bei den ersten Dummys ließ sich ihre Zahl noch an einer Hand abzählen – entsprechend weniger präzise war das Ergebnis.

Im Dummylabor: Puppen voll Technik

„Halt mal“, fordert mich Matthias Struck auf und holt mich in die Gegenwart zurück. Er drückt mir einen Dummy in der Größe eines Kleinkinds in die Hände. Beinahe hätte ich ihn fallen lassen. „Ist der schwer!“, platzt es aus mir heraus. Damit hatte ich nicht gerechnet. „Genau so schwer wie ein echtes Kind in dem Alter“, sagt er und schmunzelt. Mir wird bewusst, dass ich noch nie ein Kind auf dem Arm hatte.

Wir sind im Dummy-Labor, wo die sensiblen Crash-Piloten von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fit für ihren Unfalleinsatz gemacht werden. „Wir haben hier ungefähr 120 Dummys. Sie alle sind speziell auf die jeweilige Unfallsituation ausgelegt. Es gibt Dummys für den Frontal-, Seiten- oder Heckaufprall“, sagt Matthias Struck.

Die verschiedenen Dummy-Typen sind gesetzlich vorgeschrieben. Auch die jeweilige Kleidung ist genau geregelt – so tragen manche Dummys eine Art gelben Neoprenanzug. Aber warum? „Diese Kleidung ist neben anderen Details so vorgegeben, damit die Bedingungen in allen Crashanlagen der Welt vereinheitlicht sind und die Ergebnisse vergleichbar bleiben.“, erklärt Matthias Struck.

Es gibt Dummys in allen denkbaren Größen – vom Neugeborenen bis zum Erwachsenen ist alles mit dabei. Auch bei den Erwachsenen werden unterschiedliche Größen berücksichtigt. „Nehmen wir zum Beispiel die Fünf-Prozent-Frau“, sagt Matthias Struck. Statistisch betrachtet sollen nur fünf Prozent der Frauen weltweit kleiner oder leichter als dieser Frontalaufprall-Dummy sein.

„Dieser Dummy gehört, genauso wie andere, zum festen Bestandteil unserer Prüfungen, denn wir müssen natürlich verschiedene Körpergrößen und Sitzpositionen berücksichtigen. Nur so kann die Fahrzeugsicherheit für Passagiere auf der ganzen Welt gewährleistet werden.“ Und die Ergebnisse sprechen für sich: „Wir haben heute im Vergleich zu früher erheblich weniger Verkehrstote bei gleichzeitig viel dichterem Straßenverkehr.“

60 Jahre Crashtest-Erfahrung – aber auch auf die nächsten 60 vorbereitet?

In den Anfangsjahren der Unfalltests war eine solche Technik noch nicht denkbar: Da wurden Crashtests noch selbstverständlich unter freiem Himmel durchgeführt. „Erst 1973 wurde die erste Crashhalle gebaut“, sagt Gerhard Heidbrink. „Dadurch wurde das Ganze systematischer, professioneller und unabhängig vom Wetter.“

Ende 2016 gab es dann einen Quantensprung: der Neubau des heutigen Technologiezentrums für Fahrzeugsicherheit wurde eröffnet. Damit änderte sich nicht nur der Name: Das Gebäude wurde deutlich größer und bekam vier hochflexibel nutzbare Crash-Bahnen, die in eine große, stützenfreie Winkelfläche münden. Seitdem können auch Crashs mit zwei gleichzeitig bewegten Fahrzeugen durchgeführt werden, die mit hoher Genauigkeit ineinander fahren. Dadurch kann z.B. ein typischer Unfall an einer Kreuzung nachgestellt werden.

Auch die Kapazität wurde mit der neuen Anlage gesteigert: 2012, in der alten Crashtest-Halle, schafften die Experten maximal 465 Unfallversuche im Jahr. „In den neuen Hallen hingegen geht es in Richtung von 1000 Gesamtfahrzeugversuchen“, sagt Matthias Struck.

Das Modernisierungs-Projekt, an dessen Ende das heutige Technologiezentrum für Fahrzeugsicherheit steht, hat Norbert Schaub ins Leben gerufen. Er leitet bei Daimler die Versuchsabteilung für Passive Sicherheit und Fahrzeugfunktionen und ist besonders stolz darauf, was dort mittlerweile alles möglich ist: „Die Versuchskonstellationen hier im TFS decken weltweit alle Gesetze und Sicherheits-Ratings ab. Darüber hinaus ergeben sich einige Mercedes-spezifische Tests aus den Erkenntnisse unserer eigenen Unfallforschung. Was viele nicht wissen“, erzählt er: „Schon vor dem ersten Crash-Versuch fließt viel Arbeit in die rechnerische Auslegung des Fahrzeugs.“

Fahrzeugsicherheit bei Mercedes-Benz verändert sich – Grund dafür: der Mobilitätswandel

In sechs Jahrzehnten ist eine Menge passiert. Und auch in den kommenden Jahrzehnten wird sich die Unfallsicherheit weiterentwickeln. Denn mit dem Wandel der Mobilität verändern sich auch die Anforderungen an das Technologiezentrum für Fahrzeugsicherheit. Beim Neubau hat das Team darum schon versucht, einen Blick in die Zukunft zu wagen – und die Anforderungen berücksichtigt, die nach heutigem Ermessen in den nächsten 40 Jahren an die Unfallversuche gestellt werden könnten. So wurden z.B. alle Vorkehrungen getroffen, um Fahrzeuge mit alternativen Antrieben crashen zu können. Zum Beispiel den EQC (Mercedes-Benz EQC 400: Stromverbrauch kombiniert: 21,3-20,2 kWh/100km; CO2-Emissionen kombiniert: 0 g/km*):

Doch nicht nur Elektrofahrzeuge sind ein Thema, das bei den Sicherheitsforschern im Trend liegt: „Sobald Autos automatisiert fahren können, wird sich auch das Innenleben des Autos verändern“, sagt Norbert Schaub. Logisch – wenn der Fahrer nicht mehr lenken und auf die Pedale treten muss, so kann er stattdessen entspannt Zeitung lesen, statt geradewegs auf die Windschutzscheibe zu starren.

Wird sich die Mobilität in den kommenden Jahrzehnten weiter wandeln? Ja. Wird sich das Technologiezentrum für Fahrzeugsicherheit deshalb künftig ausruhen? „Nein“, betont Rodolfo Schöneburg, Centerleiter für Fahrzeugsicherheit, Betriebsfestigkeit und Korrosionsschutz bei Mercedes-Benz:

„Für mich ist ganz klar: Ein sicheres Fahrzeug nutzt alle Möglichkeiten der Unfallvermeidung, ist aber immer auch darauf vorbereitet, dass es einen Unfall geben könnte. Daher werden alle unsere zukünftigen Fahrzeuge, auch die automatisierten, selbstverständlich unsere hohen Anforderungen an die Crashsicherheit erfüllen.“

„Zuletzt haben wir an dem Experimental-Sicherheits-Fahrzeug (ESF) 2019 gearbeitet“, erzählt Nobert Schaub. „Das ESF 2019 zeigt ein Sicherheitskonzept für ein Fahrzeug, das sowohl automatisiert als auch vom Fahrer selbst gefahren werden kann.“ Zu den Besonderheiten des ESF2019 gehört, dass Lenkrad und Pedale einfahrbar sind, damit beim automatisierten Fahren mehr Komfort angeboten werden kann.

Am Beispiel des Fahrerairbags wird klar, dass dadurch auch die Sicherheitssysteme gründlich überarbeitet werden müssen. Denn wenn das Lenkrad weiter entfernt ist, muss der Fahrerairbag anders ausgelegt werden. Er ist dann nicht mehr im Lenkrad selbst untergebracht, sondern z.B. in der Instrumententafel und entfaltet sich dann über das Lenkrad hinweg.

Zugegeben: Mit den Anfängen der Fahrzeugsicherheit hat das nicht mehr viel zu tun. Aber das ist auch gut so. Denn die Sicherheitsinnovationen der vergangenen Jahrzehnte haben entscheidend dazu beigetragen, dass der motorisierte Straßenverkehr heute so sicher ist wie nie zuvor. Unzählige Crashtests und Tausende von Unfallsimulationen und -versuchen, haben diesen Fortschritt möglich gemacht. Schrott sei Dank!

Melanie Spremberg

Melanie Spremberg ist Kommunikations-Managerin in der Automobilindustrie. Von 2019 bis 2020 war sie in der Unternehmenskommunikation von Daimler tätig. Währenddessen schrieb sie unter anderem über Crashtests, Arbeitssicherheit und In-Car Gaming.

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