Ein ganz normales Büro in der Mercedes-Benz Entwicklung am Standort Böblingen: In der einen Zimmerecke stapeln sich Fachbücher, in der anderen wartet eine Filterkaffeemaschine auf ihren Einsatz. Dazwischen Kabel, Platinen, Familienfotos und Topfpflanzen. Das Dreierbüro atmet etwas vom kreativen Chaos einer Studenten-WG. Mittendrin steht der Schreibtisch von Urs Böhme. Mit einem verschmitzten Lächeln präsentiert der 49-jährige Ingenieur den neuesten Bürozugang: „Als die Kollegen gehört haben, dass die Redaktion des Daimler-Magazins vorbeikommt, hat mir einer diese Lampe besorgt.“ Sie klemmt an Böhmes Monitor, eine Glühbirne mit Armen und Beinen. Man muss kein Donaldist sein, um die Anspielung auf Daniel Düsentriebs Helferlein zu verstehen. „Die schalte ich jetzt immer an, wenn ich grad eine Idee habe“, berichtet Böhme. Allein in der vergangenen Woche brannte die Lampe zwei Mal.
Der Mann mit über 100 Patenten

Dem ein Licht aufgeht.
Aller Auto Anfang war der Benz Patent-Motorwagen im Jahr 1886. Das dreirädrige Fahrzeug haben Generationen von Ingenieuren weiterentwickelt. Allein die Daimler AG hat seither 120.000 Innovationen patentieren lassen, rein rechnerisch entspricht das fünf pro Tag. Doch wer sind die Menschen hinter diesen Ideen? Was treibt sie an? Und wie lässt sich Erfindergeist im Konzernalltag kultivieren? Wir haben Urs Böhme getroffen – er ist Entwickler und einer der engagiertesten Patent-Einreicher bei Daimler.
10 Min. Lesedauer
Was ist patentwürdig?
Geistesblitze hatte Böhme freilich schon, bevor die Lampe Einzug ins Büro hielt: 104 Patente auf seinen Namen zählt die Statistik des Deutschen Patent- und Markenamts – 40 weitere sind in der Pipeline. An die erste Einreichung erinnert sich Böhme noch genau: 2011, kurz nachdem er in seine jetzige Abteilung Leistungselektronik Vorentwicklung gewechselt war. „Zuerst erschien mir meine Idee zu ‚klein‘ – ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt patentwürdig ist. Die Kollegen mussten erst Überzeugungsarbeit leisten.“ Und sie behielten Recht: Unter dem Titel „Verfahren und Vorrichtung zum Entladen einer stromdurchflossenen Spule“ ist das Böhm’sche Erstlingswerk im Patentregister gelistet. Für den Laien erklärt, geht es darum, im Falle eines Defekts im Elektroauto, die Spannung in einer stromdurchflossenen Spule zu trennen und auf einen Kondensator umzuleiten. Der Effekt: Die gespeicherte Energie wird abgebaut, der Motor verliert schnell an Drehmoment und schaltet sich ab.




„Das Auto ist fertig entwickelt. Was kann noch kommen? “
Das Beispiel zeigt: Bei den meisten Erfindungen geht es heute nicht um den großen Wurf, sondern um Details und kleine Verbesserungen. Im Time Magazine war in puncto Erfindungen sogar von einem „Boring Age“ – langweiligen Zeiten – die Rede, in denen keine bahnbrechenden Neuerungen zu erwarten seien. Und selbst Carl Benz attestierte schon 1920: „Das Auto ist fertig entwickelt. Was kann noch kommen?“ Heute wissen wir: Eine ganze Menge. Man denke nur an die Knautschzone, das Anti-Blockier-System (ABS), das Elektronische Stabilitäts-Programm (ESP) oder den Airbag. Gerade Letzterer zeigt, dass Erfindungen heute in den seltensten Fällen der Geniestreich eines Einzelnen sind. So stammt das Ursprungspatent für den Airbag nicht von Daimler. Bereits 1951 meldete ein Münchner Ingenieur eine „Einrichtung zum Schutze von in Fahrzeugen befindlichen Personen gegen Verletzungen bei Zusammenstößen“ zum Patent an. Eine gute Idee, die zunächst allerdings jahrelang in der Schublade verschwand. 1967 begannen dann Ingenieure bei Mercedes damit, den lebensrettenden Luftsack weiterzuentwickeln und praxistauglich zu machen. Die erste serienreife Lösung wurde 1981 in der S-Klasse eingeführt - ein Meilenstein der passiven Sicherheit, der inzwischen in nahezu allen Fahrzeugklassen Standard ist.
Innovation – der Schüssel zu nachhaltiger Mobilität
Auch 100 Jahre nach der pessimistischen Prognose von Carl Benz, ist es in den Entwicklungsbereichen alles andere als „boring“. Das gilt vor allem für Kolleginnen und Kollegen, die mit der Elektrifizierung des Automobils zu tun haben. Schließlich hat Daimler einen klaren Kurs zu nachhaltiger Mobilität gesetzt: Bis 2039 soll die Neuwagenflotte von Mercedes-Benz Cars CO₂-neutral werden. Bereits in zehn Jahren sollen Plug-In Hybride oder rein elektrischen Fahrzeuge mehr als die Hälfte des Pkw-Absatzes stellen.
Nachhaltige Mobilität und Konzepte für den Elektroantrieb voran zu bringen, das ist es auch, was Urs Böhme antreibt. „Dieser Umbruch ist für Leute, die sich mit Batterien, Bordnetzen und Halbleitern beschäftigen, natürlich hoch spannend“, schwärmt der gebürtige Karlsruher. „Aber auch der Druck steigt: Wir haben mehr Projekte denn je.“ Projekte, die ihn als Ingenieur fachlich faszinieren und als Mensch überzeugen. Er erzählt, dass ihn schon als Jugendlichen in den 1980er-Jahren Ideen zu Nachhaltigkeit, Ressourcensparen und Recycling geprägt haben. Ideen, die er heute an seine Kinder weitergibt. Dass sie dort auch ankommen, zeigt eine Zeichnung von Tochter Daniela an Böhmes Büroschrank: Ein Auto, das von einem überdimensionierten Windrad angetrieben wird. „Sie fragt immer mal wieder nach, wann ich ihre Skizze endlich als Patent anmelde“, sagt der dreifache Vater schmunzelnd.
Tüfteln ist bei Böhmes Familientradition: Urs Böhme begleitete schon als vierjähriger Knirps seine Mutter – beide Eltern sind selbst Ingenieure –zu Vorlesungen an die Technische Universität Karlsruhe (das heutige KIT). „Ich glaube zwar nicht, dass damals etwas hängen geblieben ist, außer wo die Spielzeugläden rund um den Campus waren. Aber das Thema Technik war bei uns zu Hause schon sehr präsent“, erinnert sich Böhme. Sein Vorbild war allerdings sein Großvater: Karl Rudolf Böhme, der seinerzeit rund 50 Patente eingereicht hat – darunter einen Prototyp der Audio-Kassette.


Endlose Erfinderliebe
Auch in der Daimler-Familie hat das Tüfteln Tradition: So falsch Carl Benz mit der Prognose zur Fertigentwicklung des Autos lag, so richtig erweist sich seine Aussage: „Die Liebe zum Erfinden höret niemals auf“. Das zeigen tausende Erfindungsmeldungen, die jährlich bei der Daimler Brand & IP Management GmbH & Co. KG (kurz: Daimler IP) zusammenlaufen. Die Gesellschaft ist für Intellectual Property zuständig, also das geistiges Eigentum des Konzerns in Form von Patenten, Marken und Designs. Einer der Juroren für neue Ideen ist Ingo Brückner, der bei Daimler IP die Themen Antriebsstrang, Electric Drive und Fahrzeugsicherheit verantwortet. „2019 haben wir konzernweit mehr als 4.500 Erfindungsmeldungen bekommen – gut zehn Prozent mehr als in den beiden Vorjahren.“
Dabei kommen die Ideen nicht ausschließlich aus reinen Entwicklerteams oder Think Tanks. Theoretisch ist jeder der rund 300.000 Daimler-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter weltweit aufgerufen, seine Ideen einzubringen. Wird aus jeder Idee ein Patent? Brückner winkt ab: „Den Weg von der Einreichung einer Erfindungsmeldung bis zur Patentanmeldung haben letztes Jahr etwa 2.100 Ideen geschafft. Wichtiges Erfolgskriterium ist eine über die reine Idee hinausgehende, konkrete erfinderische technische Lösung für ein Problem. Und so mancher Vorschlag ist gegenüber dem bekannten Stand der Technik schlichtweg auch nicht mehr neu und somit nicht patentfähig“. Die gesamte Patentlandschaft und den Status quo der Technik zu überblicken ist schon innerhalb eines Unternehmens nicht einfach, weltweit ist es schlichtweg nicht machbar. Diese Erfahrung hat auch Urs Böhme schon gemacht: „Natürlich ist es erstmal enttäuschend, wenn jemand anderes schneller war – vor allem, wenn dieser jemand nicht bei Daimler arbeitet. Aber es zeigt auch, dass ich mit der Idee nicht völlig danebenlag.“
„4.500 Erfindungsmeldungen haben wir 2019 bekommen – gut zehn Prozent mehr als in den beiden Vorjahren.“
Den richtigen Riecher hat Böhme häufig: Nach seiner Patent-Premiere 2011 ging die Kurve der Einreichungen bei ihm stetig nach oben: Allein 2019 waren es rund 40. Doch woher nimmt der Vollzeit-Ingenieur und Vollblut-Familienvater die Zeit fürs Erfinden? Man wisse nie, wann einem eine Idee komme, erzählt Böhme: „Das kann auf dem Weg zum Briefkasten sein oder während einer14-stündigen Fahrt in den Urlaub nach Spanien, wo die Familie meiner Frau zu Hause ist.“ Während die komplette Familie im Auto schlief, hatte Böhme Zeit, seine Gedanken kreisen zu lassen. Bei der Ankunft in Saragossa musste er die Erfindung nur noch zu Papier bringen. Ideen schnell festzuhalten, ist ihm generell wichtig – im Büro nutzt er dafür einen Ideenordner auf seinem PC. Und wenn ihn abends im Bett die Muse küsst? „Das kommt gar nicht so selten vor. Dann gehe ich runter in die Küche und schreibe die Idee auf. Ich bin furchtbar vergesslich“, gesteht Böhme.
Erfinden ist Mannschaftssport
Der Küchentisch ist auch der Ort, an dem er regelmäßig sein Laptop aufklappt, sobald die Kinder abends im Bett sind. Die Arbeit an einer Erfindung ist manchmal eine Sache von Stunden, kann sich aber auch über Monate hinziehen. Der letzte Schritt ist das vierseitige Online-Formular „Erfindungsmeldung“ im Daimler-Intranet, das dann wiederum bei der Daimler IP im E-Mail-Eingang landet. In dem Dokument sind gleich vier Felder für Erfinderdaten vorgesehen – weitere Beteiligte kann man als Anlage ergänzen: „Ich habe so gut wie keine Erfindung allein eingereicht. Das Allermeiste entwickelt sich im Pingpong im Team“, so Böhme. „Könnte das funktionieren?“ „Hast Du daran schon gedacht?“ – oft sei es ein Stichwort aus dem Team, das den Durchbruch bringe. „Und wenn einer sagt: ‚Das funktioniert nie!‘ ist das für mich erst Recht Ansporn, zu beweisen: Es geht doch“, erzählt Urs Böhme. Besonders eng arbeitet er mit seinem Tischnachbarn André Haspel zusammen, dem Kollegen, der ihm die Helferlein-Lampe mitgebracht hat. „Urs hat mich überhaupt erst zum Erfinden gebracht, er ist sowas wie mein Mentor“, sagt der 24-Jährige. Mit Erfolg: In seinen dreieinhalb Jahren in der Abteilung hat Haspel bereits über 60 Erfindungsmeldungen eingereicht.
„Wie es kommt, dass unser Büro so kreativ ist? Weil man uns lässt! “
Wie kommt es, dass Ihr Büro so kreativ ist? „Weil man uns lässt“, sagt Urs Böhme und schaut in Richtung des dritten, gerade verwaisten Schreibtisches im Dreierbüro. Der gehört seinem Teamleiter. Dabei ist es Böhme wichtig, dass die Patente nur eine „positive Nebenwirkung“ seines Jobs und des produktiven Austausches mit den Kollegen sind. Rund 80 Prozent seiner Zeit verbringt er am PC, um Konzepte für Lieferanten zu erstellen oder in Meetings mit Kollegen. Ein Vorentwicklungsprojekt für künftige Fahrzeugplattformen ist gerade in der heißen Phase. Ziel ist es, die verschiedenen Module des Elektroantriebs bestmöglich miteinander zu verknüpfen. „Das ist eine hochspannende Spielwiese für Entwickler: mit neuen Bauteilen, innovativen Schaltungen und höheren Spannungsklassen.“ Am meisten genießt Böhme die im Schnitt knapp 20 Prozent seiner Arbeitswoche in einem der Labore – egal ob das Verlöten einer Schaltung im Low Volt-Labor gleich nebenan ansteht oder eine Messung im Emulator im Untergeschoss. „Der Emulator ist ein Zwischending von Simulation und Realbetrieb. Hier spielen wir quasi Elektro-Auto“, erläutert Böhme. Mit fachmännischer Erklärung und noch mehr Fantasie sind die im Raum verteilten Komponenten zu erkennen: Motor, Akku, Leistungselektronik, Kühlung – und auch eine Ladesäule. Kabel von der Dicke eines Kinderarms lassen erahnen, was Böhme bestätigt: Hier zirkuliert einiges mehr an Leistung als beim privaten Hausanschluss.
Im Club der Big 100
Auch die Erfindung, die Böhme seine „bisher Beste“ nennt, hat er zusammen mit Co-Erfinder Haspel im Emulator entwickelt und getestet. Es handelt sich um eine Schaltungstopologie für einen quasi-isolierten Spannungswandler. Kurz erklärt lassen sich damit im Elektroauto zwei Hochvoltsysteme kombinieren. Sollte in einem der Systeme die Isolation defekt sein, wird mit dem Umrichter sichergestellt, dass es im anderen System nicht zu einer übermäßigen Belastung und im Äußersten zum Kurzschluss kommt. Mit dieser Innovation hat das Tandem im Frühjahr 2019 einen europäischen Innovationspreis gewonnen. Die gläserne Auszeichnung ziert seither das Sideboard zwischen ihren Schreibtischen.
Auch firmenintern ehrt Daimler seit 2007 seine Erfinder. Wer angesichts der zahlreichen Patente von Urs Böhme mit einer ganzen Schrankwand voller Pokale rechnet, sucht vergebens. „Die Daimler Inventor-Trophäe hat bei mir einen schönen Platz im Wohnzimmer“, sagt der Entwickler. Das besondere an der Auszeichnung ist: Sie wächst mit der Zahl der Erfindungen: Fürs das erste Patent gibt’s die Trophäe. Sie lässt sich auf bis zu vier Bausteine – bei 20, 50 und 100 Erfindungen – erweitern, die sich übereinanderschichten lassen. Böhmes Trophäe ist seit Dezember 2019 komplett: Den letzten Baustein hat ihm Markus Schäfer, Daimler-Vorstandsmitglied für Konzernforschung und Entwicklung sowie Mercedes-Benz Cars Chief Operating Officer, persönlich übergeben. „Da bin ich auf der Bühne schon ein paar Zentimeter gewachsen“, erinnert sich Böhme. Zu Recht: „Während seit 2007 mehr als 10.000 Mitarbeiter mit der Erstlingstrophäe prämiert wurden, haben nur ganze 15 Kollegen die magische Marke der Big 100 erreicht“, sagt Ingo Brückner von der Daimler IP.
Erfinden zahlt sich aus
Von diesem Flow der guten Ideen profitieren beide: Unternehmen und Erfinder. Erst kürzlich hat das Center of Automotive Management (CAM) Mercedes-Benz beim AutomotiveINNOVATIONS Award 2020 als innovationsstärkste Premiummarke
Was Urs Böhme sich wohl nie zulegen wird, ist ein Erfindungsroboter. Weil er dafür mit zu viel Herzblut bei der Sache ist. Und weil die Mobilität von morgen schon heute die Kreativität von Menschen wie ihm braucht. Carl Benz hat diesen inneren Drang, Bestehendes zu hinterfragen, um Neues zu schaffen, seinerzeit treffend in Worte gefasst: „Erfinden ist viel schöner als erfunden zu haben.“ Darum besteht kein Zweifel: Die Helferlein-Lampe auf Urs Böhmes Schreibtisch wird noch oft leuchten.
Die Geschichte über Urs Böhme ist die erste Gemeinschaftsproduktion zwischen Daimler-Magazin und Mercedes me Magazin. Mehr Einblicke in die Markenwelt von Mercedes-Benz gibt es hier