Nachhaltige Mobilität in der Stadt der Zukunft

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Stadt, Land – und im Fluss?

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Daimler-Blog veröffentlicht.

Erstmals in der Weltgeschichte leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land: 55 Prozent der Menschen weltweit wohnen aktuell in einem urbanen Raum. Welche Auswirkungen wird dieser Trend auf die Mobilität der Zukunft haben? Und welche Rolle wird das Auto dabei spielen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Marianne Reeb in ihrem Alltag bei Daimler. Wir haben mit ihr über ihre Vision von morgen gesprochen.

9 Min. Lesedauer

von Sven Sattler, Autor
erschienen am 16. Juli 2019

Wer sich mit Marianne Reeb über die Mobilität von morgen unterhalten möchte, dem droht zunächst ein ernüchternder Einblick in die Mobilität von heute. Denn zwischen die Daimler-Konzernzentrale in Stuttgart-Untertürkheim und Marianne Reebs Büro im smart-Areal Böblingen haben die Götter – oder vermutlich eher die Stadtplaner – den Heslacher Tunnel gesetzt.

Er verbindet den Talkessel mit den südlichen Ausläufern Stuttgarts. Damit ist er nicht nur ein echter Evergreen im Verkehrsfunk, sondern auch die beliebteste Entschuldigung, wenn man bei einer Besprechung ein paar Minuten nach Beginn aufkreuzt. Oft darf man sogar auf verständnisvolles, gar mitleidiges Nicken der anderen Teilnehmer hoffen. Das ist zumindest dann unangenehm, wenn die Verspätung nüchtern betrachtet eher der eigenen Planung geschuldet war.

Auch davon abgesehen hat der Tunnel seinen schlechten Ruf zu Unrecht. Immerhin sorgt die 1991 fertiggestellte Röhre dafür, dass sich die Autos auch nicht mehr über die Steigungen der Südstadt quälen brauchen – was für die Stuttgarter in den 70ern und 80ern noch eine achselzuckend hingenommene Selbstverständlichkeit war.

Überhaupt ist die Beschäftigung mit der urbanen Mobilität eine recht junge Disziplin, wenn man bedenkt, dass das Auto schon 133 Jahre alt ist und auch der Beginn der Massenmotorisierung in Europa inzwischen ein paar Tage her ist.

Marianne Reeb war 1995 eine der ersten, die sich bei Daimler dafür stark gemacht haben, die Wechselwirkungen zwischen Stadt, Stadtbewohnern und Stadtverkehr näher zu beleuchten – und stieß damit anfangs nicht selten auf Unverständnis:

„Gerade in der ersten Zeit sind wir durch den Konzern gelaufen und haben gesagt: Leute, ihr müsst stärker auf die Städte schauen! Aber damals herrschte bei einigen noch die Meinung vor, dass unsere Kunden doch eher auf dem Land wohnen und ihren Mercedes abends in die schöne Garage stellen.“

Marianne Reeb

Marianne Reebs Ideen sind gefragt – bei Kommunen und Kongressen

Zwei Jahrzehnte später muss sie diese Diskussionen längst nicht mehr führen. Urbanisierung hat längst den Stempel als Megatrend bekommen. Doch Marianne Reeb ist eine der wenigen, die auch jenseits der allfälligen Worthülsen über Urbanisierung sprechen können. Darum ist die Frau, die einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaft hat, mit der Berufsbezeichnung Zukunftsforscherin jedoch so viel besser getroffen, als Gesprächspartnerin so gefragt: bei Kommunen, bei Wirtschaftsverbänden, bei Kongressen.

In dieser Woche spricht sie auf einem Panel beim Kongress METROPOLITAN CITIES in Aachen über smarte Städte und deren Prinzipien. Und sie berät die Initiative Rhein Ruhr City 2032, deren Gründer Michael Mronz nicht nur die Olympischen Sommerspiele in jenem Jahr nach Nordrhein-Westfalen holen möchte – sondern vor allem darüber sprechen möchte, wie ein nachhaltiges Bau- und Mobilitätskonzept für den größten Ballungsraum Deutschlands aussehen könnte.

„Diese Initiative passt sehr gut zu unserer aktuellen Forschung“, sagt Marianne Reeb, „vor allem, weil wir in unseren Gesprächen mit den Städten immer wieder einen Satz hören: Wir hätten keine Verkehrsprobleme, wenn wir keine Region drum herum hätten. Und bei Rhein Ruhr City 2032 beschäftigen wir uns ja ganz bewusst mit dem Verkehrskonzept einer gesamten Region.“

Umsteigen in der Stadt – aber auch an ihren Grenzen

Es ist sicher zu platt, die Schwierigkeiten urbaner Verkehrsplanung vor allem denen anzulasten, die morgens in die Stadt hineinfahren und abends wieder hinaus. Aber die Stadt und ihre Mobilität lassen sich eben nur verstehen, wenn man auch die Herausforderungen in der Region kennt: „Wir müssen eigentlich eher über Smart Regions als über Smart Cities sprechen“, sagt Marianne Reeb. Mit ihrem Hauptwohnsitz in Berlin, ihrem Zweitwohnsitz im Stuttgarter Außenbezirk Möhringen und ihrem Büro in Böblingen (auf der, von Stuttgart betrachtet, anderen Seite des bereits ausreichend gewürdigten Heslacher Tunnels) kennt sie die drei Dimensionen aus erster Hand.

Und sie weiß: Ein Teil der Herausforderungen wartet genau dort, wo Stadt und Umland aufeinandertreffen:

„Außerhalb der Stadtgrenzen ist das Auto für die Bewohner deutlich wichtiger – was man ja gut verstehen kann: Der öffentliche Verkehr ist weniger gut ausgebaut, Carsharing lohnt sich für die Betreiber oft nicht und es gibt genügend Parkplätze.“

Marianne Reeb

Das bedeutet für die Städte: Sie werden dem Verkehrsstrom aus dem Umland vor allem Herr, indem sie am Ortsschild den Umstieg auf andere Verkehrsmittel möglich machen: „Stuttgart ist dafür gar kein so schlechtes Beispiel“, sagt Marianne Reeb: „mit dem Park-and-Ride-Parkplätzen in Degerloch oder in Leinfelden hat die Stadt Orte geschaffen, an denen ich bequem zum öffentlichen Nahverkehr umsteigen kann.“

Damit ist die Idee noch längst nicht zu Ende gedacht. Zukunftsfähige Mobilitäts-Hubs könnten nicht nur das Fügeelement zwischen Auto und Straßenbahn sein, sondern auch zu allen anderen Verkehrsmittel für den städtischen Raum: zu Carsharing-Fahrzeugen, Leihfahrrädern oder irgendwann auch zu Verkehrsmitteln, an die wir heute noch gar nicht denken – zu fahrerlosen Shuttles, zu Flugtaxis oder Seilbahnen. „Wir beobachten schon heute, dass der Modal Split, also die Verteilung des Verkehrsaufkommens auf die einzelnen Verkehrsträger, in der Stadt wesentlich differenzierter ist als in ländlichen Regionen“, sagt Zukunftsforscherin Reeb. Wer Menschen davon überzeugen will, genau das Verkehrsmittel zu nutzen, das sie schnell und effizient ans Ziel bringt, muss das Umsteigen bequem machen. Und zwar an den Stadtgrenzen genauso wie in der Stadt selbst.

Solche Visionen für morgen entstammen den Gesprächen von heute. Die Zukunftsforscher von Daimler sprechen mit den Kommunen genauso wie mit den Experten der verschiedensten Disziplinen: Stadtplanern, Architekten, Fahrzeugbauern. „Wir versuchen, immer aus der Perspektive des Bewohners auf die Stadt zu blicken. Und wir erforschen, wie sich die Gesellschaft und ihre Werte verändern werden, um auf das urbane Leben von morgen und übermorgen schließen zu können“, sagt Marianne Reeb.

Die Ideen verarbeiten ihr Team und sie in einem Trägermedium, das die Fantasie anregt: in Bildern, die den Betrachter 15 oder 20 Jahre in die Zukunft versetzen. Einige davon sind inzwischen so beliebt, dass sie von Medien, Vortragsrednern und sogar Unternehmensberatern angefragt werden, um eigene Beiträge und Präsentationen zu illustrieren. Marianne Reeb gefällt der Aufruhr, für den die Visionen sorgen, die sie liebevoll „Wimmelbilder“ nennt.

Auf einem der berühmtesten schwebt eine Seilbahn über dem Stuttgarter Charlottenplatz. Er ist zu einem Shared Space für alle Verkehrsteilnehmer geworden, in seiner Mitte steht ein Mobilitäts-Hub. Auch Autos und Transporter fahren noch auf dem Platz. Die mehrspurige Hauptstraße führt jedoch unter dem Platz hindurch. Sie ist zu Stoßzeiten mautpflichtig – und je dichter der Verkehr, umso höher ist der Preis. Die smarte Stadt ist flexibel beim Umgang mit ihren Verkehrsteilnehmern.

Ein radikales Auto-Verbot in der Stadt ist für Marianne Reeb kein realistisches Szenario: „Ich glaube nicht, dass verbieten und teurer machen immer der richtige Weg ist. Es gibt ganz andere Möglichkeiten, positive Anreize zu schaffen. Denken Sie an eine Art Bonus-Modell: Wenn ich an einem Tag anstatt meiner stark frequentierten Standard-Route auf eine weniger befahrene Route oder ein anderes Verkehrsmittel ausweiche, bekomme ich einen Punkt. Und wenn ich zehn davon gesammelt habe, darf ich einmal kostenlos parken. Damit haben sie einen starken Hebel, um den Verkehr zu regulieren. Bei solchen Modellen setzt die Politik heute noch gar nicht an.“

Was das Auto für die Stadt tun kann

Das Auto, da ist Marianne Reeb überzeugt, wird seinen Platz haben in der vielfältigen urbanen Mobilität von morgen – schon alleine deshalb, weil es mehr sein kann als ein Transportmittel von A nach B. „Carsharing ist zum Beispiel eine tolle Sache. Aber denken Sie mal daran, wie kompliziert es für Mütter und Väter ist, die jedes Mal, wenn sie ein Auto brauchen, zwei Kindersitze einbauen müssen. Das sind Dinge, für die wir noch keine Lösung haben. Und darum gibt es auch bei Stadtbewohnern nach wie vor den Trend, sich spätestens bei der Familiengründung ein eigenes Auto anzuschaffen.“

Was das Auto technisch können muss, um für die Stadt von morgen attraktiv zu sein?

„Ich bin ziemlich sicher, dass es früher oder später lokal emissionsfrei sein muss. Dieses Ziel haben sich fast alle Städte in Europa und in Asien auf die Fahne geschrieben. Und es wird ziemlich sicher irgendwann auch Straßenabschnitte oder zumindest einzelne Spuren geben, die für autonom fahrende Fahrzeuge reserviert sein werden. “

Marianne Reeb

Das wird aber nicht unbedingt in der Innenstadt sein, sondern vielleicht auch auf Transitstrecken, zum Beispiel aus der Stadt zum Flughafen." Und noch weiter nach vorne gedacht? „Es lohnt sich, auch mal umgekehrt zu denken und die Frage zu stellen: Was kann das Auto für die Stadt tun?“, sagt Marianne Reeb. Ein paar Antworten hat sie parat: „Autos werden in Zukunft intelligente Maschinen sein, mit einer Rechenkapazität von mehreren herkömmlichen Laptops. Vielleicht könnte diese Kapazität, wenn die Autos gerade nicht in Betrieb sind, anderweitig genutzt werden. Oder vielleicht könnten autonome Fahrzeuge nebenbei Infrastruktur-Aufgaben übernehmen: Sie überwachen mit ihren Kamerasystemen doch ohnehin permanent den Zustand der Straße. Finden Sie also ein Schlagloch, können Sie andere Verkehrsteilnehmer warnen – oder es vielleicht direkt an die Straßenmeisterei melden.“

Wir verstehen uns

Kurzum: Wer herausfinden möchte, welchen Platz das Auto in der Stadt von morgen haben wird, muss vor allem das Automobil selbst ein Stück weit neu denken. „Mit Eigenschaften wie Langlebigkeit, hoher Qualität und hoher Wertanmutung hat Mercedes-Benz als Marke viele Charakteristika, die heute wie morgen relevant sein werden“, sagt Marianne Reeb. "Aber es gibt aus meiner Sicht auch noch ein weiteres Spielfeld, das sich für uns als Premium-Marke öffnen wird. Nämlich die Frage, wie wir es schaffen, die Fahrt in unseren Autos zu einem persönlichen, emotionalen Erlebnis zu machen.

„Dazu gehören natürlich Design und Komfort, aber womöglich auch ein Ökosystem, das mir die Services anbietet, die ich just in diesem Moment benötige – und das so dafür sorgt, dass mich mein Fahrzeug geradezu versteht. Ein bisschen so, wie es heute schon mein Smartphone tut.“

Marianne Reeb

Wenn es in der Stadt der Zukunft noch Staus geben sollte, könnte das Auto anhand meiner Musikpräferenzen also schon die passende Anti-Frust-Playlist zusammenstellen, wenn es die Schlange der Bremslichter vor uns erkennt. Von einer Idee, die bei den meisten Staugeplagten noch besser angekommen wäre, mussten sich die Zukunftsforscher derweil verabschieden: Dass das Auto beim Aufflackern der Bremslichter automatisch die Rotorblätter auf dem Dach startet und einfach davonfliegt, wird im Heslacher Tunnel freilich nie klappen – und auch außerhalb der Röhre Fiktion bleiben. „Wir haben dazu mit Experten aus dem Hubschrauberbau gesprochen“, sagt Marianne Reeb: „Nur da macht die Physik leider nicht mit.“

Sven Sattler

Dieser Beitrag wurde von Sven Sattler geschrieben. Er schreibt bei Daimler für verschiedene Medien und hat für die Strecke von Untertürkheim nach Sindelfingen schon überraschend wenig, aber auch schon überraschend viel Zeit gebraucht.

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