Arbeitssicherheit bei Daimler

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Warum eigentlich all die Regeln?

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Daimler-Blog veröffentlicht.

„Bitte keine Kopfhörer auf dem Werksgelände!“, ruft es aus dem Büro des Pförtners. So viel Wirbel um ein bisschen Musik, denke ich mir – und das am Montagmorgen. Doch das ist erst der Anfang: Kein Blick aufs Smartphone beim Treppensteigen, kein Schritt in der Produktion ohne Sicherheitsschuhe, keine brennenden Kerzen auf dem Geburtstagskuchen. Gefühlt gibt es in einem Konzern wie Daimler mehr Sicherheitsvorschriften als das Jahr Arbeitstage hat.

10 Min. Lesedauer

von Melanie Spremberg, Autorin
erschienen am 16. September 2019

Nicht ohne Grund, verrät ein Blick auf die Zahlen: 876.952 Arbeitsunfälle wurden 2018 in deutschen Unternehmen und Behörden gemeldet. Dass es weniger werden, ist auch bei Daimler die Aufgabe des Arbeitsschutzes. Doch wer ist das: „der Arbeitsschutz“? Wie schützt er uns? Und braucht es wirklich so viele Regeln? Die Antworten darauf hat Stephan Bürkner – bei Daimler der Mann hinter den Dos & Don’ts am Arbeitsplatz.

So viel Sicherheit – muss das wirklich sein?

Jeder Standort hat einen eigenen Bereich für Arbeitssicherheit – darunter fallen unter anderem auch Experten für Lärm, Gefahrstoffe, für Maschinen, Anlagen und einige mehr. Und das ist längst nicht alles: Es gibt Themen, die so komplex sind, dass wir bei Daimler ausgewiesene Spezialisten dafür haben – zum Beispiel für die Sicherheit bei der Arbeit mit elektromagnetischen Feldern. Ach ja: Und dann gibt es, je nach Anzahl der Mitarbeiter an einem Standort, noch zahlreiche Sicherheitsbeauftragte. … Jetzt mal ehrlich: So viel Sicherheit – muss das wirklich sein?

Auch Handschuhe dienen dem Arbeitsschutz – besonders beim Arbeiten mit Gefahrstoffen: Die hochätzenden Stoffe könnten den Mitarbeiter bei Hautkontakt verletzen
Auch Handschuhe dienen dem Arbeitsschutz – besonders beim Arbeiten mit Gefahrstoffen: Die hochätzenden Stoffe könnten den Mitarbeiter bei Hautkontakt verletzen

Stephan Bürkner lacht, als ich ihm die Frage stelle – und sagt dann, dass er diese Frage öfters hört. Das liegt wohl an seinem Job: Stephan Bürkner ist bei Daimler Leiter der Abteilung Arbeitsschutzmanagement und Ergonomie. Und darum ist seine Antwort auch nicht überraschend: „Auch wenn es nach viel aussieht – ich bin sicher: Ja, so viel Sicherheit muss sein.“ Er erklärt mir, dass es bei Daimler, wie in allen Industrieunternehmen, tausende Gefahrstoffe gibt, unter anderem Lacke, Lösungsmittel, Öle, Schmierstoffe ect.

Das elektrische System an den Batterien muss geprüft werden. Doch das ist nicht immer ungefährlich: Ein elektrischer Schlag kann schwere körperliche Folgen verursachen, z.B. Verbrennungen oder lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen. Spezielle Schutzkleidung verhindert, dass es dazu kommt
Das elektrische System an den Batterien muss geprüft werden. Doch das ist nicht immer ungefährlich: Ein elektrischer Schlag kann schwere körperliche Folgen verursachen, z.B. Verbrennungen oder lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen. Spezielle Schutzkleidung verhindert, dass es dazu kommt

Gerade in der Produktion ist Arbeitssicherheit natürlich ein großes Thema: Alle Maschinen und Anlagen werden mit Starkstrom betrieben. Und auch Batterien, Elektroautos und Hybridfahrzeuge funktionieren bekanntermaßen mit Elektrizität, sodass hier besondere Vorsicht geboten ist.

Damit unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Werken weder Arbeitsunfälle noch Langzeitschädigungen, etwa durch körperliche Fehlhaltungen, erleiden, kümmert sich Stephan Bürkner um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und -sicherheit im gesamten Unternehmen. Er leitet einen Bereich aus zehn Sicherheitsingenieuren und Ergonomie-Experten. Sie koordinieren alles, was in den Daimler-Werken in Sachen Arbeitssicherheit und Ergonomie passiert. Eine große Verantwortung – und logisch, dass das nur Hand in Hand mit den Kollegen vor Ort geht: Deshalb arbeiten Bürkner und sein Team eng mit den Sicherheitsexperten aller Werke zusammen. Denn niemand kennt die Herausforderungen am eigenen Standort so gut wie sie.

Safety first, schon klar – aber was kann eigentlich passieren?

Für Fußgänger ist es in den Produktionshallen besonders gefährlich: Staplerfahrer haben eine eingeschränkte Sicht und können Kollegen, die den Fahrweg kreuzen, oftmals nicht oder erst spät sehen…
Für Fußgänger ist es in den Produktionshallen besonders gefährlich: Staplerfahrer haben eine eingeschränkte Sicht und können Kollegen, die den Fahrweg kreuzen, oftmals nicht oder erst spät sehen…

Die Abteilung hat eine ganze Menge technischer Vorkehrungen und Regelungen herausgegeben, die zur Verbesserung der Arbeitssicherheit beitragen. Viele Themen sind auch vom Gesetzgeber vorgeschrieben. Aber selbst die besten Vorkehrungen und Regelungen können nur zum Erfolg führen, wenn auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sensibel an die Sache rangehen: „Technische Sicherheit ist das eine. Aber natürlich kommt es auch auf das persönliche Verhalten der Mitarbeiter an. Insbesondere auf die Einschätzung, wie gefährlich eine Situation ist – oder vermeintlich nicht ist“, sagt Stephan Bürkner.

„Die Mitarbeiter fühlen sich oft unverwundbar“, so Bürkner weiter. „Sie nehmen zwar zur Kenntnis, dass andere Unfälle haben, denken sich aber: „Das habe ich jetzt schon so viele Jahre gemacht und es ist nie etwas passiert“, sind unvorsichtig und dann passiert es doch.“ Im Großen und Ganzen geht es meistens gut aus. Kritisch wird es immer dann, wenn es zu Störungen in den alltäglichen Arbeitsabläufen kommt und improvisiert werden muss, besonders auf Baustellen oder in Reparatursituationen und wenn es sehr hektisch wird. „Deshalb ist „safety first“ das Hauptgebot bei der Arbeitssicherheit“, erklärt Stephan Bürkner.

Professionelle Ausrüstung für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz

In der Gießerei, zum Beispiel, haben es unsere Kollegen jeden Tag mit heißem Eisen zu tun. Nicht ungefährlich – deshalb schützt ein Augenschutz vor Funkenflug, ein Hitzeschutzmantel und –handschuhe vor der Wärme und eine Anti-Stoßkappe vor der Anstoßgefahr
In der Gießerei, zum Beispiel, haben es unsere Kollegen jeden Tag mit heißem Eisen zu tun. Nicht ungefährlich – deshalb schützt ein Augenschutz vor Funkenflug, ein Hitzeschutzmantel und –handschuhe vor der Wärme und eine Anti-Stoßkappe vor der Anstoßgefahr

Maßnahmen, wie das Tragen einer Schutzausrüstung in der Produktion, sind bekannt: Dazu gehören primär Sicherheitsschuhe – auch für Angestellte, die nur mal vorbeischauen oder zu einer Besprechung dazukommen wollen. Je nach Einsatzbereich braucht es eine Schutzbrille, feuerfeste Kleidung, Ohren-, Atemschutz oder Handschuhe usw.

Doch nicht allein die Persönliche Schutzausrüstung (PSA) ist wichtig, entscheidend ist eine gute Vorbereitung. „Die erste Überlegung muss immer sein: Kann ich die Tätigkeit sicher machen, bevor ich sie anfange? Was könnte passieren?“, sagt Bürkner. „Doch oft gehen Faktoren, wie Zeitdruck, Eile oder gut gemeintes „Schnell noch fertig machen“ von Aufgaben auf Kosten der Sicherheit.“

Smartphones und Gabelstapler – Gefahren auf dem Werksgelände

Doch nicht nur in der Produktion gibt es Gefahren im Arbeitsalltag. In den Büros sind Kolleginnen und Kollegen schon vom Drehstuhl gefallen – beim simplen Vorhaben, Unterlagen aus einem hohen Regal zu holen.

Wenn man auf dem Werksgelände zu Fuß unterwegs ist, sollte man besonders achtsam sein. Es fahren viele Gabelstapler, Lkw und so genannte Routenzüge (für die nicht Eingeweihten: das sind Zugmaschinen, die Material transportieren). „Das ist vielleicht in der Fußgängerzone oder im eigenen Wohngebiet nicht so das Thema“, erklärt Bürkner, „im Werk aber schon. Aufgrund des toten Winkels kann ein Staplerfahrer gar nicht immer sehen, ob jemand vorbeikommt oder nicht. Darum müssen auch alle anderen Verkehrsteilnehmer aufpassen und wachsam sein.“

Das ist übrigens auch einer der Gründe, weshalb Kopfhörer auf dem Werksgelände verboten sind – zum Leid der Musikliebhaber. Aber wie sangen schon die Rolling Stones? „You can’t always get what you want …”

Die meisten Arbeitsunfälle sind auf Fehlverhalten zurückzuführen

In der Produktion können auch Unfälle passieren. Mitarbeiter sehen zum Beispiel, dass eine Maschine verklemmt ist und versuchen anschließend, das eingeklemmte Bauteil mit den Fingern zu lösen. „Eine durchaus menschliche Reaktion – aber sobald eine Verklemmung gelöst ist, gehen die Maschinen wieder los“, sagt Bürkner.

Daimler ist der Kampagne „Vision Zero“ beigetreten. Der Konzern engagiert sich dort gemeinsam mit 2.500 weiteren Unternehmen. „Wir glauben, dass alle Arbeitsunfälle vermeidbar sind“, beschreibt Stephan Bürkner die Idee hinter Vision Zero: „Es geht darum, dass wir eines Tages soweit sind, dass wir keine schweren Arbeitsunfälle mehr haben. Soweit, dass keine berufsbedingten Erkrankungen mehr vorkommen. Und an dieser Vision arbeiten wir jeden Tag mit großem Einsatz aller Beteiligten…“

Für Stephan Bürkner ist es wichtig, sich nicht mit weniger als der Vision Zero zufrieden zu geben: „Ich selbst habe während eines Praktikums vor 25 Jahren noch an einer offenen Dreh- und Fräsmaschine gearbeitet – ohne Schutzscheibe, ohne Sicherheitskonzepte, ohne Einweisung“, sagt er: „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Denn heute sind unsere Maschinen alle abgesichert und mit Schutzglas ausgerüstet. Insgesamt muss man sagen, dass sich unsere Maschinen- und Anlagentechnik extrem weiterentwickelt haben, was die Sicherheit betrifft.“ Mittlerweile gibt es überall Sicherheitssteuerungen, Lichtschranken, Abfragen und Notfallprogramme, sodass durch die Maschine allein kaum mehr etwas passieren kann.

„Als Erfinder des Automobils und Vorreiter im Thema unfallfreies Fahren sollten wir bei Daimler doch in der Lage sein, Autos unfallfrei zu produzieren“

Stephan Bürkner Leiter Arbeitsschutzmanagement und Ergonomie

Daumen hoch bei einer Werksbegehung im ungarischen Kecskemét: Alles sicher!
Daumen hoch bei einer Werksbegehung im ungarischen Kecskemét: Alles sicher!

Daran arbeiten nicht nur die Sicherheitsingenieure in Stuttgart, sondern alle Kolleginnen und Kollegen, die in der Produktion und in der Produktionsplanung für Arbeitssicherheit zuständig sind. Auch deshalb ist Bürkner so gerne vor Ort: „Ein Gefühl für potentielle Gefährdungen in den Fabriken bekomme ich am besten, wenn ich mit den Kollegen der jeweiligen Werke spreche und die Abläufe und die Arbeitsumgebung mit eigenen Augen sehe.“

Ergonomie am Arbeitsplatz: Fit bis zur Rente

Nicht nur die Vermeidung von Unfällen ist ein Thema von Bürkner und seiner Mannschaft. Auch die Vorsorge bei berufsbedingten Krankheiten ist ein Schwerpunkt. Es geht um Ergonomie – anders gesagt: Wie gestalten wir (körperliche) Arbeit so, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Tätigkeit gut und ohne gesundheitliche Probleme bis zur Rente ausüben können?

In der Produktion nimmt das Team eine intensive Bewertung der Arbeitsplätze vor: Die Sicherheitsexperten prüfen, welche körperliche Haltung für den Menschen (auf Dauer) problematisch sein könnte und wie man Arbeitsplätze verbessern kann. Zum Beispiel durch die Umtaktung schwerer Arbeitsschritte auf mehrere Stationen, durch Hebevorrichtungen oder Krananlagen.

Auch im Büro ist Ergonomie ein Thema: Die Kollegen an Schreibtisch-Arbeitsplätzen leiden oft unter Rücken- und Nackenproblemen, wenn sie zu lange einseitig sitzen, Büromöbel falsch eingestellt haben oder sich den ganzen Tag über zu wenig bewegen. Deshalb gibt es an jedem Standort auch Ergonomie-Berater für das Büro. In den neuen, modernen Arbeitswelten ist ein Großteil der Tische sogar schon höhenverstellbar: So haben Mitarbeiter die Möglichkeit, auch im Stehen zu arbeiten.

Ein vielfältiger Job: Zwischen Technik und Social Engineering

„Wenn man mich fragt, was Arbeitssicherheit ist, sage ich: 50 Prozent Technik, aber auch 50 Prozent Social Engineering – es geht darum, wie ich Menschen dazu bringe, sich anders, also sicherer zu verhalten, als sie es heute tun.“

Im Gespräch mit Stephan Bürkner: Ob er die Psychologie des Überzeugens wohl gerade auch bei mir anwendet?
Im Gespräch mit Stephan Bürkner: Ob er die Psychologie des Überzeugens wohl gerade auch bei mir anwendet?

Was der Job ohnehin mit sich bringt, ist das wache Auge: Bürkner schaut mittlerweile automatisch hin – egal wohin er in der Daimler-Welt geht: „Ist der Feuerlöscher geprüft? Wie steht es um die Notausgänge? Fehlt eine Treppenbeleuchtung? Das ist Berufskrankheit“, sagt er und lacht. Die Kunst sei aber, nicht „polizeimäßig“ zu agieren, sondern zu versuchen, die Leute auf mögliche Gefahren hinzuweisen, ohne ihnen auf den Schlips zu treten: „Auch die Psychologie des Gesprächs und des Überzeugens spielt dabei mit rein: Am besten ist es, wenn die andere Person am Ende das Gefühl hat, selber drauf gekommen zu sein.“

In seiner Freizeit geht Bürkner gerne klettern. Auch da geht es darum, sich und Andere (ab-)zu sichern. Dort hat er gelernt, wie wichtig es ist, aufeinander Acht zu geben. Und genau das wünscht er sich auch von den Kollegen in den Werken:

„Verhalten Sie sich bitte nicht nur selbst entsprechend der Sicherheitsrichtlinien, sondern schauen Sie auch auf andere: Machen Kollegen – ohne böse Absicht oder ohne sich dessen bewusst zu sein – gerade Dinge, die womöglich gefährlich sind? Denn vier Augen sehen mehr als zwei. Und am Ende machen wir die Arbeitssicherheit nicht für das Unternehmen und den Profit, sondern damit unsere Leute abends wieder heil zu ihren Familien und Freunden nach Hause kommen.“

Stephan Bürkner Leiter Arbeitsschutzmanagement und Ergonomie

Mich rührt Bürkners Aussage. Ich möchte nun auch wieder zurück zu Familie und Freunden, bedanke mich für das informative Gespräch und laufe über das Werksgelände in Richtung Bahnstation. Meine Hand wandert reflexartig in meine Jackentasche und greift nach meinen heißgeliebten Kopfhörern. Ich denke an die Worte von Herrn Bürkner, halte kurz inne und richte meinen Blick nach vorn. Zum ersten Mal bemerke ich die Fahrzeuge, die hier so herumfahren. Da biegt tatsächlich ein Gabelstapler um die Ecke. Menschen kommen mir entgegen, halten Blickkontakt, lächeln. Ich lächele zurück. Meine Hand gleitet langsam aus der Jackentasche – „Heute nicht“, beschließe ich.

Melanie Spremberg

Melanie Spremberg ist Kommunikations-Managerin in der Automobilindustrie. Von 2019 bis 2020 war sie in der Unternehmenskommunikation von Daimler tätig. Währenddessen schrieb sie unter anderem über Crashtests, Arbeitssicherheit und In-Car Gaming.

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