„Unsere Arbeit hat Markt- und Mehrwert“ - Axel Harries und Daniel Deparis im Interview

„Unsere Arbeit hat Markt- und Mehrwert“.

Städte faszinieren Menschen – und ziehen sie mehr und mehr an. Bereits heute lebt über die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Bis 2050 sollen noch circa 2,5 Milliarden Menschen hinzukommen. Mit den steigenden Zahlen wächst auch die Notwendigkeit, Mobilität auf engem Raum neu zu denken. Doch welches Interesse hat Daimler daran, die Individualmobilität im urbanen Raum zu reduzieren? Axel Harries und Daniel Deparis verantworten bei Mercedes-Benz das Thema Urban Mobility Solutions. Ihre Mission: Die individuellen Bedürfnisse der Menschen verstehen und die Mobilität im Schulterschluss mit den Städten neu erfinden.

Herr Harries, Herr Deparis, was macht das Leben in der Stadt erstrebenswert?

Harries: Die Menschen leben in der Stadt, weil sie dort arbeiten. Aber auch die vielfältigen Möglichkeiten zur Unterhaltung und Freizeitbeschäftigung, die immense Auswahl an Geschäften und Restaurants, die Freiheit, spontan entscheiden und machen zu können, wonach einem gerade der Sinn steht – das macht für viele den Reiz aus.

Deparis: Deshalb ist es so wichtig, den Menschen ihre Städte „zurückzugeben“, Lebensräume zu schaffen, die nicht vom Verkehr diktiert werden. Schon jetzt arbeiten viele Städte daran Alternativen anzubieten, indem sie überbauten Raum wie Parkflächen in Fuß- und Radwege oder Grünflächen umwandeln. Aktionen wie diese zeichnen eine moderne Stadt aus – und machen sie lebenswert.

Nun verdienen wir als Automobilhersteller unser Geld zu allererst mit dem Verkauf von Fahrzeugen. Die autofreie Stadt der Zukunft kann doch nicht in unserem Interesse sein?

Harries: Unser Interesse ist es, einen signifikanten Beitrag für eine bessere Zukunft zu leisten. Das klingt vielleicht erstmal sehr idealistisch. Aber unser gesellschaftlicher Beitrag wird immer wichtiger. Für uns ist das auch eine Form von Good Corporate Citizenship. Uns ist nicht egal, wie die Städte morgen aussehen und wie man sich dort bewegt. Wir wollen hier einen aktiven Beitrag leisten, weil wir glauben, dass es in jeder Situation die optimale Lösung gibt – manchmal ist es das Auto, manchmal das Fahrrad. Und über den gesellschaftlichen Aspekt hinaus ist „Urban Mobility Solutions“ auch ein potenzieller Vertriebskanal der Zukunft. Unsere Arbeit wird schon jetzt – im Forschungsstadium – von mehreren Städten und Regionen aktiv angefragt. Das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Unsere Arbeit hat Markt- und Mehrwert. Das freut uns sehr!

Deparis: Wir sprechen hier von Corporate Shared Value – einem Konzept, das bereits seit Jahren existiert. Wir müssen uns unbedingt von dem Gedanken lösen, dass profitables Business und sozialer Mehrwert sich gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil: Nur, wenn beides zusammenkommt, reden wir von einem nachhaltigen Geschäftsmodell.

Axel Harries ist stolz, dass „Urban Mobility Solutions“ sich als potentieller Vertriebskanal der Zukunft etabliert.
Axel Harries ist stolz, dass „Urban Mobility Solutions“ sich als potentieller Vertriebskanal der Zukunft etabliert.

Und wie sieht dieses Geschäftsmodell ganz konkret aus?

Harries: Ganz einfach: Im klassischen Vertriebsgeschäft verkaufen wir unseren Kunden unsere Fahrzeuge. Das Business mit Städten geht weit darüber hinaus. Hier steht das Mobilitätsprogramm mit einer Region oder einer Stadt im Mittelpunkt. Vielleicht vertreiben wir in diesem Rahmen auch unsere Fahrzeuge – es ist aber nicht der alleinige Geschäftszweck. Die Kollegen von Urban Mobility Solutions sind keine Verkäufer. Vielmehr positionieren sie sich als Berater und Begleiter einer Stadt, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Wie haben Sie sich als Team aufgestellt?

Harries: Wir haben bewusst ein sehr diverses, cross-funktionales Team gebildet – die Kollegen kommen aus unterschiedlichen Ländern und Bereichen des Konzerns und bringen ganz individuelle Erfahrungen und ein breit aufgestelltes Grundwissen mit. Wir haben dem Team alle Freiheiten gelassen, sich in Ruhe mit Städten, Behörden und Industrievertretern auszutauschen. Denn wir wollen gemeinsam mit ihnen die Mobilität neu erfinden und Lösungen vorantreiben. Und der Ansatz scheint zu funktionieren: Inzwischen fragen Städte proaktiv bei uns an.

Nach welcher Strategie gehen Sie vor, wenn Sie einen Mobilitätspakt mit einer Stadt eingehen?

Deparis: Wir haben unser Portfolio in drei Kategorien eingeteilt: In der ersten Säule, Vehicle Cityzation, befassen wir uns mit unseren Fahrzeugen, stellen die Frage: „Wie können wir unsere Produkte auf die Bedürfnisse der Städte und Bürger anpassen?“ Bei der zweiten Säule, Data Driven Mobility, dreht sich alles um Daten. Verknüpfen wir unsere Fahrzeugdaten mit den Daten der Städte können wir einen großen Beitrag zu mehr Sicherheit im Stadtverkehr beitragen. Mit den Urban Mobility Solutions, unserer dritten Säule, etablieren wir konkrete Lösungen für einzelne Quartiere: Hier suchen wir nach Wegen, um bessere Anbindungen zu ermöglichen und bestehende Mobilitätslösungen klug zu vernetzen.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Städten?

Deparis: Bevor wir handeln, müssen wir die Bedürfnisse der jeweiligen Stadt verstehen. Also setzen wir uns zusammen, stellen Fragen wie: „Was bewegt euch? Was braucht eure Stadt? Woran arbeitet ihr bereits? Was können wir für euch tun?“ Die Bedürfnisse sehen immer ähnlich aus: Städte wollen mehr Sicherheit, mehr Effizienz, nachhaltiger sein und den Zugang zu Mobilitätsoptionen verbessern. Anschließend schauen wir, wie wir mit unseren Produkten und der im Konzern vorhandenen Expertise über alle Sparten hinweg unterstützen können – und gehen Projekte konkret an. Wir arbeiten mit Städten so zusammen, als wären sie für den jeweiligen Zeitraum interne Kollegen. Das bleibt von Tag eins bis zur Umsetzung aller gemeinsam erarbeiteten Lösungen so.

Für die Stadt der Zukunft wird auch die Datenerfassung wichtiger. Wie tauschen wir uns hier aus?

Deparis: Über unsere Assistenzsysteme können wir anonym erfassen, wie sich unsere Fahrzeuge verhalten. Konkretes Beispiel: Häuft sich der Einsatz des ESP an bestimmten Stellen in einer Stadt, wissen wir, dass hier etwas verändert werden muss. Unsere Daten sind deshalb so wertvoll, weil sie sehr verlässlich sind. Wir bieten hier einen Qualitäts-Standard, bei dem Smartphones oder andere nicht mithalten können. Seitens der Städte stehen uns Daten zur Infrastruktur, Ampelschaltung, Unfällen etc. zur Verfügung. Legen wir diese mit unseren Daten zusammen, können wir daraus gemeinsame Schlüsse ziehen. Das geschieht sowohl in Echtzeit, wenn beispielsweise Fahrzeuge mit Ampeln „kommunizieren“– und eine Überfahrt bei Rot verhindern, als auch in Form von sogenannten Predictive Analytics. Dabei handelt es sich um Daten aus der Vergangenheit, die uns Muster offenbaren, mit Hilfe derer wir Aussagen über die Zukunft treffen können.

Urban Mobility Solutions beteiligt sich auch am Projekt Rhein Ruhr City 2032. Können Sie uns einen kleinen Einblick geben?

Harries: Wir arbeiten hier – gemeinsam mit vielen anderen Playern – an einem ökonomisch und ökologisch nachhaltigen Konzept für die Olympischen und Paralympischen Spiele. Bis 2032 sollen an Rhein und Ruhr essenzielle Zukunftsthemen wie die vernetzte Mobilität und Digitalisierung entscheidend vorangetrieben werden. Das Besondere an #RRC2032 ist, dass hier nicht nur eine einzelne Stadt neue Wege geht. Es haben sich gleich mehrere Städte der Metropolregion Rhein-Ruhr und des Rheinlands zusammengeschlossen – um die gesamte Infrastruktur intelligent zu vernetzen. Wir sind Teil eines Zusammenspiels von vielen Partnern, die gemeinsam spannende Ideen umsetzen und sind stolz, bei einem so großen Projekt unseren Beitrag leisten zu können.

Lassen sich Erkenntnisse aus dieser Zusammenarbeit auch auf andere Projekte übertragen?

Harries: Definitiv. Da profitieren wir von unseren bisherigen Erfahrungen. Viele reden über das Thema lebenswerte Städte – die wenigsten haben aber anhand konkreter Projekte schon gezeigt, dass sie Lösungen auch umsetzen können. Kurzfristig und effizient. So konnten wir beispielsweise einer großen europäischen Metropole mit der gezielten Auswertung von Fahrzeugdaten dabei helfen, gefährliche Kreuzungen zu identifizieren und für Fußgänger und andere Verkehrsteilnehmer sicherer zu machen. Wir können mit Stolz und Recht behaupten: wir wissen, wovon wir sprechen. Und auch die Städte nehmen uns als wertvolle Partner wahr. Wir konnten sie überzeugen, dass wir nicht nur Autos verkaufen, sondern auch an anderen Lösungen mitarbeiten wollen.

Daniel Deparis arbeitet eng mit Vertretern der Städte zusammen und erlebt diesen Austausch als sehr bereichernd.
Daniel Deparis arbeitet eng mit Vertretern der Städte zusammen und erlebt diesen Austausch als sehr bereichernd.

Welche Ziele verfolgen Sie mittel- und langfristig?

Harries: Unser erstes Ziel haben wir schon erreicht: Wir werden von den Städten nicht mehr als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung wahrgenommen. Es ist wichtig, dass wir uns immer wieder selbst hinterfragen und die neuesten Entwicklungen stets im Blick behalten. Es passiert so viel in den Städten momentan. Da muss das Team am Puls bleiben, „raus gehen“ in die Welt, sich konsequent weiterbilden. Für die Städte, die das nicht täglich machen, entsteht durch die Zusammenarbeit mit unserem Team so auch ein echter Mehrwert.

Wenn ich heute schon die Stadt der Zukunft erleben möchte, wohin würden Sie mich schicken?

Deparis: Das Verhalten der Bürger einer Stadt wird in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen. London hat das beispielsweise schon gut erkannt. Dort werden nicht nur tolle Produkte eingesetzt und wichtige Regeln aufgestellt. Die Stadt zeigt sich auch als Vorreiterin darin, das Verhalten der Menschen zu verstehen und im positiven Sinne zu beeinflussen. Singapur und Kopenhagen – aber auch deutsche Städte wie Hamburg und Stuttgart – sind ebenfalls sehr spannende Beispiele.

… Brennt Ihnen abschließend noch etwas auf der Seele?

Deparis: Manchmal stoßen wir intern, eher durch Zufall, auf Bereiche, die beispielsweise Tools oder Daten an der Hand haben, die unsere Arbeit mit den Städten sehr erleichtern – und sogar neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen. Viele Kollegen haben uns auf diesem Weg schon sehr unbürokratisch geholfen. Unser internes Netzwerk wächst und wächst. Der Austausch mit Kollegen aus allen möglichen Bereichen und Ländern gehört immer mehr zu unserem Arbeitsalltag. Dafür sind wir sehr dankbar! Nicht zuletzt bietet das gebündelte Wissen den Städten, die mit uns arbeiten, ebenfalls einen riesen Mehrwert.

Daniel Deparis
… leitet seit 2019 den Bereich „Urban Mobility Solutions“ bei der Mercedes-Benz AG. Gemeinsam mit seinem Team vernetzt er alle Kräfte im Unternehmen, die sich mit urbaner Mobilität beschäftigen, und arbeitet an neuen Produkten und Lösungen, die zur Verbesserung der Lebensqualität in Städten beitragen.

Axel Harries
… verantwortet das Product Management Mercedes-Benz Cars sowie das Sales Management MBC. „Urban Mobility Solutions“ unterliegt seit Anfang 2020 seinem Verantwortungsbereich, um der strategischen Neuausrichtung des Vertriebs in Richtung Städte – also „Business to Metropolis“ gerecht zu werden.