„Nachhaltigkeit muss Chefsache sein!“

„Nachhaltigkeit muss Chefsache sein!“.

Werner Schnappauf ist gleichermaßen in Politik, Wirtschaft und Beratungsbranche daheim. Was seinen Lebenslauf prägt wie kein zweites Thema, ist sein Engagement zu Fragen der Nachhaltigkeit. Aktuell berät er als Vorsitzender des Rates für Nachhaltige Entwicklung die deutsche Bundesregierung. Ein Gespräch mit einem, der den Perspektivwechsel nie scheute.

Herr Dr. Schnappauf, in Ihrer beruflichen Laufbahn haben Sie sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit nachhaltiger Entwicklung beschäftigt – als Politiker, als Geschäftsführer des BDI und heute als Anwalt und Berater. Gibt es einen „gemeinsamen Nenner“ zwischen all den Blickwinkeln?

Ich würde sagen: Nachhaltigkeit muss Chefsache sein! Solange man Nachhaltigkeit nur delegiert, nach dem Motto: „Erstelle uns mal einen Nachhaltigkeitsbericht und drucke den auf Umweltpapier“, hat man das Thema nicht richtig verstanden. Wichtig ist, dass Nachhaltigkeit in die Entscheider-Ebene einzieht. Und dass die Vorstandsvorsitzenden oder andere Vorstandsmitglieder das Thema verantworten und Nachhaltigkeit wirklich ganzheitlich betrachten. Wichtig ist, dass alle drei Säulen der Nachhaltigkeit, also die Ökonomie, die Ökologie und die soziale Dimension, zusammen gedacht und gesteuert werden. Nur so kann nachhaltige Entwicklung wirklich gelingen. Das ist für mich die zentrale Erkenntnis aus meinen bisherigen Erfahrungen.

Wie hat sich die Rolle von Nachhaltigkeit in den letzten Jahren verändert?

Vor 20 bis 30 Jahren waren Begriffe wie Nachhaltigkeit oder nachhaltige Entwicklung zwar im politischen Raum präsent, wurden aber häufig als Worthülsen belächelt. In den letzten Jahren, und aktuell noch verstärkt durch die Corona-Pandemie, erleben wir ein Momentum für Nachhaltigkeit, wie ich es in all den Jahrzehnten meiner Tätigkeit noch nie erlebt habe. Und zwar in Politik, in Wirtschaft und Finanzwelt sowie in der gesamten Gesellschaft.

Welche Rolle spielt die Wirtschaft genau?

Politik kann zwar Ziele setzen und Regulierungen vornehmen. Wenn aber das Engagement der Wirtschaft mit ihren Technologien und Innovationen nicht dazukommt, dann funktioniert es nicht. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat das ganze Thema nunmehr richtig Fahrt aufgenommen. Jetzt spürt man, nicht nur die Industrie, sondern auch die Finanzwirtschaft investiert zunehmend in CO₂-arme bzw. CO₂-freie Technologien. Das ist entscheidend, denn nachhaltige Transformation kann nur gemeinsam gelingen.

Wie lässt sich denn so eine nachhaltige Transformation realisieren?

Das ist tatsächlich eine der zentralen Fragen, mit der wir sozusagen bei der Operation am offenen Herzen sind. An Ihrer Branche kann man die Herausforderungen gut sehen: Um eine CO₂-arme bzw. CO₂-freie Mobilität von morgen zu gestalten, muss sich die Automobilindustrie, in der viele Weltmarktführer arbeiten, transformieren. Also von konventionellen Antrieben, die auf Benzin und Diesel basieren, hin zu alternativen Antriebsformen. Und das bei laufendem Betrieb. Während also noch für einige Zeit die konventionellen Motoren weiter produziert werden, werden gleichzeitig neue Antriebsformen erforscht, entwickelt und gebaut. Dafür sind natürlich enorme Investitionen erforderlich. Und deshalb, glaube ich, brauchen wir heute mehr denn je ein enges Miteinander von Politik und Wirtschaft, um diese schwierige Übergangsphase erfolgreich zu meistern. Denn wir wollen natürlich auch morgen weltmarktführend sein. Das heißt, wir müssen unsere globale Wettbewerbsfähigkeit in den verschiedenen Industrien mit Klimaschutz und Klimaneutralität verbinden. Und dafür setzt nach meiner Überzeugung der European Green Deal einen guten Rahmen, denn er bekennt sich zum wirtschaftlichen Wachstum, aber einem Wachstum, das entkoppelt ist vom Ressourcenverbrauch und immer stärkeren Umweltbelastungen.

Ein weiteres Wirtschaftswachstum ist nur als nachhaltiges Wirtschaftswachstum möglich.

Glauben Sie wirklich, dass weiteres Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit vereinbar sind?

Absolut: Ja! Ein wirtschaftliches Wachstum wird nur dann auf Dauer Bestand haben können, wenn wir die natürlichen Belastungsgrenzen der Erde nicht überschreiten. Ein weiteres Wirtschaftswachstum ist also nur als nachhaltiges Wirtschaftswachstum möglich. Das haben auch die Bürger und Konsumenten erkannt. Hier sehe ich ein immer größeres Bedürfnis nach Produkten, die umwelt- und sozialverträglich produziert sind. Dabei geht es nicht nur um die Produktion am Standort Deutschland oder in Europa, sondern rund um den Globus. Diese Verantwortung für das Ganze zeigt sich etwa bei den aktuellen Diskussionen zum Thema Lieferkettengesetz.

Welchen Beitrag muss die Politik leisten, damit sich so eine Transformation auch tatsächlich realisieren lässt?

Zum einen müssen die im European Green Deal festgeschriebenen Grundsätze in nationales Recht überführt werden. Der kommenden Bundesregierung kommt hier die zentrale Aufgabe zu, für die Erreichung der Klimaneutralitätsziele der europäischen Union auch in Deutschland den richtigen Regulierungsrahmen zu schaffen. Neben der Regulierung muss aber natürlich auch eine entsprechende Transformation der gesamten Infrastruktur erfolgen. In Bezug auf Elektromobilität etwa heißt das, dass der Ausbau der Ladeinfrastruktur konsequent vorangetrieben werden muss, damit immer mehr Kunden auf Elektroantriebe umsteigen können. Bei dem Ausbau dieser Infrastrukturen müssen wir deutlich schneller werden, damit neue Technologien auch nachgefragt und implementiert werden können. Dazu gehört auch der gesamte Netzausbau und der Aufbau einer geeigneten Infrastruktur für die Nutzung von Wasserstoff.

Und wo sehen Sie seitens der Politik noch Verbesserungsbedarf?

Es ist notwendig, dass wir uns bei der Vernetzung von Politikbereichen deutlich verbessern. Wir arbeiten zum Beispiel mit einem Gesetz zum Ausbau der Eisenbahninfrastruktur, einem zum Fernstraßenausbau und einem zum Ausbau der Energiewirtschaft. Diese sind aber nicht unbedingt aufeinander abgestimmt, etwa bezüglich Fristen oder Verfahren zur Bürgerbeteiligung. Für die nachhaltige Transformation brauchen wir viel mehr Koordinierung und Vernetzung in der Politik, damit wir kohärent werden. Gerade im Verkehrssektor wird doch ganz deutlich, dass der Flugverkehr, der Zugverkehr, die individuelle Mobilität mit dem Auto und auch die mit dem Fahrrad viel stärker aufeinander abgestimmt werden müssen. Hier eine größere Vernetzung herbeizuführen, ist ein ganz zentrales Thema für die nächsten Jahre. Ein weiterer Bereich, in dem Verbesserungsbedarf besteht, ist die schnellere Digitalisierung. Denn Digitalisierung wird auch für die Klimaneutralität und für Nachhaltigkeit insgesamt, eine ganz zentrale Rolle spielen. Mit einem Satz also: Wir müssen uns noch mehr vernetzen und schneller werden.

Glauben Sie trotzdem, dass wir die Pariser Klimaschutzziele erreichen können?

Absolut. Ja, die Ziele sind ehrgeizig und der Zeitraum ist kurz. Aber dadurch, dass ja überall zu spüren ist, dass diese Ziele jetzt auch umgesetzt werden sollen, bin ich zuversichtlich, dass wir sie auch erreichen können. Dieses Jahrzehnt ist das entscheidende Jahrzehnt, um die Umsetzung der ambitionierten Zielsetzung Klimaneutralität innerhalb von 30 Jahren auch tatsächlich zu erreichen. Und das geht nach meiner Überzeugung nur, wenn Politik und Industrie Schulter an Schulter gemeinsam ehrgeizig an diesem Ziel arbeiten. Jeder muss hierfür seinen Beitrag leisten: die Politik also den Rahmen und beispielsweise entsprechende Anreize für Infrastrukturinvestitionen setzen, die Industrie Innovationen entwickeln und umsetzen.

„Für mich ist Transformation und damit auch Nachhaltigkeit etwas, was wir mit Vorfreude auf das Kommende und der Kraft der Begeisterung verfolgen sollten.“ Fotos: Viviane Wild © Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE)

Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Maßnahmen, mit denen die Politik diese Entwicklung fördern kann?

Für mich ist das vor allem der marktwirtschaftliche CO₂-Preis. Dass also deutlich wird, überall wo CO₂ drin ist, wird es in den nächsten Jahren immer teurer. Das wird enorme Auswirkungen auf die Investoren haben und zur Neuorientierung von Kapitalströmen führen. Und natürlich auch auf Unternehmen, die sich in ihren Forschungs- und Entwicklungsabteilungen klar auf CO₂-arme und CO₂-freie Innovationen konzentrieren. Denn alles, was Treibhausgase emittiert, hat langfristig keine Zukunft mehr. Ein weiterer wichtiger Stellhebel ist die politische Rahmensetzung. Die langfristig angelegten Klimaschutzgesetze können Unternehmen Planungs- und Investitionssicherheit geben. Das wird ein entscheidender Pluspunkt sein. Denn damit weiß man ganz klar die Richtung, in die die Reise geht.

Sehen Sie weitere Voraussetzungen für die nachhaltige Transformation?

Wichtig ist, dass wir die kommenden 30 Jahre nicht vertrödeln, indem wir „business as usual“ machen. Also mit Prozeduren und Verfahren arbeiten, die wir seit Jahrzehnten praktizieren. Wir müssen schneller werden und uns mit einer positiven Haltung und Freude an die Aufgabe der Veränderung machen. Für mich ist Transformation und damit auch Nachhaltigkeit etwas, was wir mit Vorfreude auf das Kommende und der Kraft der Begeisterung verfolgen sollten. Es gibt eine schöne Redewendung: „Wo ein Begeisterter steht, ist der Gipfel der Welt.“ Diese Begeisterung für die nachhaltige Entwicklung sehe ich als wichtige Voraussetzung für die nachhaltige Transformation. Und ich wünsche mir, dass wir uns als Deutschland ganz an die Spitze dieser Bewegung stellen. Und dass wir als Europa zu dem Kontinent werden, in dem Wirtschaft und Umweltschutz zusammen gedacht und gelebt werden – eben „Sustainability made in Europe“.

Welchen Beitrag wünschen Sie sich hierbei von Unternehmen wie Daimler?

Entscheidend ist, dass die Industrie proaktiv an das Thema herangeht und mit zur Erreichung der politischen Ziele beiträgt. Etwa zur Reduktion von CO₂-Emissionen um 55 Prozent bis 2030, wie es der European Green Deal vorsieht. Dafür ist es notwendig, dass jeder an seiner Stelle nicht nur seinen unmittelbaren Verantwortungsbereich sieht: also die Politik die Regulierung und die Wirtschaft die Entwicklung und Produktion sowie die Erwirtschaftung von Gewinnen. Vielmehr müssen Unternehmen auch Verantwortung für Umwelt und Soziales – etwa ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – übernehmen und berücksichtigen, welche Auswirkungen ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten auf diese Bereiche haben. Wenn wir die Transformation gemeinsam schaffen wollen, gilt diese Forderung aber umgekehrt natürlich auch für die Politik ebenso wie beispielsweise für Umweltverbände, die auch ein Grundverständnis für die Anforderungen und Herausforderungen der Wirtschaft brauchen.

Und in Bezug auf die nachhaltige Mobilität der Zukunft?

Beim Thema nachhaltige Mobilität ist heute ein so starkes Bewusstsein da, dass das Umsteuern sicher kraftvoll weitergeht. Ich habe hier noch Ihren CEO Ola Källenius im Ohr. Als er angetreten ist, hat er sich ganz klar zu Nachhaltigkeit verpflichtet – sowohl was das Unternehmen selbst angeht als auch die Zulieferer in der Lieferkette. Natürlich spielen neben der CO₂-Reduktion auch die verantwortungsbewusste Gestaltung der Lieferketten und der Umgang mit Ressourcen eine wichtige Rolle, um Mobilität nachhaltig zu gestalten. Aber ich denke, dass wir hier insgesamt auf einem guten Weg sind. Was ich mir allerdings wünsche, ist, die Mobilitätsdebatte zu entideologisieren. Und insgesamt etwas lockerer mit dem Thema umzugehen, damit wir uns nicht an der falschen Stelle verkämpfen. Es sollte nicht zu einem Kulturkampf zwischen individueller und öffentlicher Mobilität kommen. In Zukunft wird es ohnehin ein breiteres Angebot an Mobilitätsmöglichkeiten und eine größere Intermodalität geben. Dieses Angebot durch Innovationen und neue Technologien nachhaltig zu gestalten und mit attraktiven städtebaulichen Maßnahmen zu verbinden – das ist die Herausforderung. Dieser Perspektivwechsel würde der Diskussion in Deutschland sehr gut tun.

Dr. Werner Schnappauf ist seit Januar 2020 Vorsitzender des Rates für Nachhaltige Entwicklung, dem er seit 2016 angehört und ist als Rechtsanwalt tätig. Zuvor war der promovierte Jurist Hauptgeschäftsführer und Präsidiumsmitglied des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V. (BDI). Schnappauf verfügt über lange Erfahrungen in der Politik, u.a. als Umweltminister des Freistaates Bayern, Vorsitzender der Umweltministerkonferenz sowie als Mitglied des Bundesrates und von Bundesversammlungen.