Sie sind das Trendbarometer, wenn es um aktuelle Entwicklungen im Bereich Nachhaltigkeit geht, ganz gleich ob regulatorisch, gesellschaftlich oder technologisch. Sie bringen externe Anforderungen an den Konzern, interne Ziele und die Geschäftsstrategie zusammen. Und sie beraten und unterstützen die Fachbereiche dabei, Aspekte der Nachhaltigkeit in ihrer Arbeit mitzudenken. Nicole Susann Roschker steuert im Sustainability Competence Office das Nachhaltigkeitsmanagement gemeinsam mit dem Konzernumweltschutz, während Dr. Wolfram Heger das Stakeholder Management bei der Mercedes-Benz Group verantwortet. Ein Gespräch über den Modus Vivendi mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs), den Wert einer Wesentlichkeitsanalyse und die Grenzen unternehmerischen Einflusses.
Frau Roschker, Herr Dr. Heger, was sind die wichtigsten Zukunftsthemen der Nachhaltigkeit in der Automobilindustrie, die Sie – gemeinsam mit Stakeholdern – im Blick behalten müssen?
Dr. Wolfram Heger (WH): Die Prioritäten sind vielfältig, beginnend beim Umweltschutz, über Menschenrechte, verantwortliche Lieferketten bis hin zu Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Wir werden diese Themen künftig noch viel stärker als bisher gesellschaftlich begleiten – also fragen, welche Ursachen, gesellschaftliche Wechselwirkungen und Lösungsansätze es gibt.
Nicole Susann Roschker (NSR): Neben Menschenrechten und Klimaschutz ist der schonende Umgang mit Ressourcen für die Mercedes-Benz Group ein Top-Thema. Wir können den Klimawandel oder den Umgang mit Ressourcen nicht losgelöst von der Frage sozialer Gerechtigkeit betrachten. Das zeigen zum Beispiel aktuelle regulatorische Entwicklungen, wie das deutsche Lieferkettengesetz. Eine nachhaltige Lieferkette bedeutet bei Weitem nicht nur, Menschenrechte einzuhalten. Es geht darum, soziale und ökologische Aspekte ganzheitlich im Blick zu haben und Risiken entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu vermeiden und zu begrenzen – von der Rohstoffquelle bis zum Recycling. Das wird sich auch bei den gesetzlichen Vorgaben, die wir 2022 von der EU erwarten, widerspiegeln. Zusätzlich fordern uns die Erwartungen von Investorenseite, auch dort rücken ESG-Faktoren zunehmend in den Fokus.
Für die Wesentlichkeitsanalyse zur Gewichtung von Nachhaltigkeitsthemen beziehen Sie interne wie externe Stakeholder ein. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen?
NSR: Eine ganz entscheidende. Unternehmen sind als Corporate Citizens Teil der Gesellschaft, ihre Aktivitäten zahlen positiv oder negativ auf deren Nachhaltigkeitsziele ein. Wir haben deshalb die Auswirkungen unserer Geschäftsaktivitäten auf die SDGs bewertet (SDG-Impact Analyse). Durch unsere Zusammenarbeit mit Partnern aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik entstehen Impulse weit über unser Produkt hinaus, die sich auf die Gesellschaft auswirken. Unter unseren Partnern sind Unternehmen, Think Tanks, Universitäten und Kommunen, jede dieser Kooperationen leistet einen Beitrag. Gleichzeitig schauen wir, wo wir uns noch verbessern können, zum Beispiel in der Lieferkette oder in unseren Werken. Mit den gewonnenen Erkenntnissen arbeiten wir kontinuierlich weiter.
Gibt es Aspekte, die sich in 2021 besonders stark weiterentwickelt haben?
NSR: Ja, die deutlich ehrgeizigeren Elektrifizierungsziele unserer Ambition 2039 im Pkw-Bereich, wonach wir eine CO2-neutrale Pkw-Neuwagenflotte entlang der gesamten Wertschöpfungskette bis 2039 anstreben. Mit dem strategischen Schritt von „Electric first“ zu „Electric only“ haben wir diesen Anspruch im vergangenen Jahr noch einmal verschärft. Neben einer Reihe anderer Faktoren haben auch die Ergebnisse der Wesentlichkeitsanalyse zur Entscheidung des Unternehmens beigetragen, bis zum Ende dieses Jahrzehnts auf batterieelektrische Antriebe umzustellen, überall dort, wo es die Marktbedingungen erlauben. Externe wie interne Stakeholder haben das Thema Klimaschutz als das Handlungsfeld mit der höchsten Relevanz eingestuft.
WH: Mir ist wichtig, bewusst zu machen, dass wir bereits seit Langem an diesen Zielen arbeiten. Ich meine, dass gerade unser kontinuierlicher und langjähriger Stakeholder Dialog mit der Zivilgesellschaft und dem Beirat für Nachhaltigkeit und Integrität dazu beigetragen haben, dass wir heute ein Human Rights Respect System haben, einen wirkungsvollen Datenschutz, unsere Ambition 2039 und den Ansatz „Electric only“.
Warum ist die Perspektive von außen so wichtig für die Analyse?
WH: Externe Experten, beispielsweise aus Nichtregierungsorganisationen oder unserem Beirat, geben uns sehr offene Denkanstöße und bringen ihr fachspezifisches Know-how in der Frage ein, wie wir unsere Strategie und unsere operativen Prozesse gestalten können. Mit dem Ziel, in diesen Fragen weiterzukommen, machen wir den Nachhaltigkeitsdialog. Dort vertreten die externen Experten ihre Position und äußern Kritik und Erwartungen an Mercedes-Benz sehr deutlich. Und das ist gut so. Denn sie begleiten uns kontinuierlich in der Frage: Was können wir besser machen? Damit sind unsere Interessengruppen unverzichtbare Sparring-Partner. Und ich gehe davon aus, dass ihre Bedeutung noch steigen wird.
NSR: Diese Tendenz wird auch darin deutlich, dass unser Beirat beispielsweise inzwischen regelmäßig zwischen den Gremiensitzungen konsultiert wird, zu den unterschiedlichsten fachlichen Fragestellungen. Wir schätzen diesen Austausch sehr, denn die Gespräche mit externen Experten, die eine andere Perspektive einbringen, tragen dazu bei, dass wir wesentliche Schritte vorankommen.
Welche Rolle haben NGOs in der Wesentlichkeitsanalyse gespielt?
NSR: Als wichtige Stakeholder-Gruppe finden sich NGOs in allen vier Bausteinen der Analyse wieder: in der Deskanalyse, der SDG-Impact-Analyse, den Stakeholder-Befragungen und den Experteninterviews. Die NGOs sind Treiber für viele Entwicklungen, unter anderem in der Gesetzgebung.
Wenn von NGOs Forderungen und Anregungen kommen, wie binden Sie diese in Ihre Strategie und in Ihre Prozesse ein?
NSR: Die Wesentlichkeitsanalyse untermauert unseren Strategieprozess. Für jedes in der Analyse durch unsere Stakeholder genannte Thema gibt es eine Tiefenanalyse, die sich auf Chancen, Risiken und wesentliche Trends bezieht. Wir stellen uns die Frage, wie wir das jeweilige Thema im Unternehmen am besten weiterentwickeln können. Unsere Analyse präsentieren wir nicht nur im Group Sustainability Board, sondern wir bereiten die Ergebnisse für alle Fachbereiche und fachübergreifenden Arbeitsgruppen unserer strategischen Handlungsfelder auf. So fließen die Ergebnisse der Wesentlichkeitsanalyse in unsere weitere Strategieentwicklung ein. Wir leiten dann operative Maßnahmen ab und machen die Ergebnisse über Leistungsindikatoren messbar.
WH: Ein Praxisbeispiel: Wir haben über viele Jahre unseren Menschenrechtsansatz, das Human Rights Respect System, immer wieder mit externen Stakeholdern gespiegelt. Dabei greifen wir Anregungen auf und diskutieren Dilemma-Situationen, schärfen aber auch Prozesse und KPIs und justieren sie nach. Wir haben nicht jeden Punkt übernommen, aber doch sehr viele – weil sie hilfreich sind und wir ein gemeinsames Ziel im Blick haben. Daher ist dieser Austausch für uns extrem wichtig.
Das klingt nach einer vertrauensvollen Zusammenarbeit.
WH: Absolut. Das war nicht immer so. Aber dank des regelmäßigen Austauschs, auch in 14 Jahren „Sustainability Dialogue“, ist über die Jahre ein Vertrauensverhältnis gewachsen. Daher haben wir heute mit nahezu allen Stakeholdervertretern ein gutes Verhältnis – sofern sie ein Interesse an einem konstruktiven Austausch haben. Es gibt einen gemeinsamen Modus Vivendi, der auf Verlässlichkeit, Vertrauen und gegenseitigem Respekt beruht. Das erlaubt uns, kritische Themen zu adressieren und gemeinsam zu reflektieren. Zum ehrlichen Dialog gehört es übrigens auch, Grenzen unseres unternehmerischen Einflusses aufzuzeigen.


Gleichwohl nutzen Sie als Unternehmen nationale und internationale Mandate, um Positionen gegenüber der Politik zu vertreten.
WH: Das ist kein Widerspruch – im Gegenteil. Die hierfür legitimierten politischen Institutionen setzen den regulatorischen Rahmen. Wir können unsere Position gemeinsam mit anderen Stakeholdern über Mandate, wie zum Beispiel beim UN Global Compact, dem World Business Council for Sustainable Development oder econsense, dem Forum Nachhaltige Entwicklung der Deutschen Wirtschaft, vertreten. Auf diesem Weg ist es völlig legitim, gegenüber der Politik auch deutlich zu machen, was wir realistischerweise tatsächlich leisten können.
Zurück zur Wesentlichkeitsanalyse: Wo hat ein Impuls daraus zu einer konkreten Strategie geführt?
NSR: Zum Beispiel unser Fokus auf den Ressourcenschutz lässt sich unter anderem darauf zurückführen. Es wurde intensiv mit dem Einkauf diskutiert, inwieweit wir unseren Lieferanten Ziele diesbezüglich setzen und wie wir gemeinsam mit ihnen auf Basis der gesamten Wertschöpfungskette eine deutliche Steigerung des Ressourcen- und Klimaschutzes erreichen. Dazu gehört auch, zu prüfen, ob die Supplier Sustainability Standards noch ambitioniert genug sind und diese stetig weiterzuentwickeln.
Verstehen Sie sich intern auch als Erklärende von Stakeholder-Interessen?
WH: Wir verstehen unsere Rolle als Übersetzer von aktuellen gesellschaftlichen Erwartungen ins Unternehmen. Wir sehen uns aber auch als Hinweis- und Impulsgeber für zukünftige Nachhaltigkeitsentwicklungen. So beraten wir Fachbereiche, wie sie planen und gestalten können. Diese Aufgabe ist – wie Nachhaltigkeit insgesamt – kein Sprint, eher ein Marathon.
NSR: Wir bringen interne und externe Perspektiven zusammen, wenn wir das, was wir in den Gesprächen mit unseren Stakeholdern hören, an die Fachkolleginnen und -kollegen weitergeben.
Sie haben 2021 den 14. und letzten Daimler Sustainability Dialogue mit Stakeholdern durchgeführt. Gibt es das Format auch 2022?
WH: Definitiv. Wir entwickeln den Dialog kontinuierlich inhaltlich weiter und planen auch 2022 eine Ankerveranstaltung. Die Details entwickeln wir gerade – dabei denken wir auch über zusätzliche kleinere Dialogformate und Diskussionen zu Spezialthemen nach. Wichtig ist vor allem, dass wir kontinuierlich im Austausch sind. Wir werden weiterhin alles daransetzen, im Dialog mit unseren Stakeholdern unseren Beitrag zur nachhaltigen Ausrichtung des Unternehmens zu leisten.
Dr. Wolfram Heger
verantwortet das externe Stakeholder-Management bei der Mercedes-Benz Group AG – darunter auch den Sustainability Dialogue sowie die Betreuung von Mandaten, unter anderem beim UN Global Compact. Sein Team gibt externe Impulse intern weiter und greift Zukunftsthemen der Nachhaltigkeit auf. Heger ist seit 1998 im Unternehmen. Zuvor studierte er VWL und Politikwissenschaft und promovierte zu wertorientierter interner Kommunikation.
Nicole Susann Roschker
kümmert sich bei der Mercedes-Benz Group überwiegend um die Strategie- und Governance-Entwicklung für Nachhaltigkeit sowie um den Themenkomplex Sustainable Finance und führt derzeit eine neue Wesentlichkeitsanalyse durch. Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen vom Betrieblichen Umweltschutz ist Roschker mit ihrem Team für das Sustainability Competence Office, das Arbeitsgremium des Group Sustainability Board des Konzerns, zuständig. Sie absolvierte 2012 ihren MBA Sustainability Management an der Leuphana Professional School in Lüneburg und ist seit vielen Jahren im Bereich Nachhaltigkeitsmanagement tätig.
Diesen und weitere Artikel finden Sie auch in unserem Nachhaltigkeitsbericht 2021