Mehr Windschnittigkeit für weniger Emissionen.

Teddy Woll ist Ingenieur mit Leib und Seele. Seit knapp 20 Jahren leitet er die Aerodynamik bei Mercedes-Benz - der Windkanal ist sozusagen sein zweites Zuhause. Im Interview erklärt er, was sich verändert hat und warum die Aerodynamik noch wichtiger wird.

Herr Woll, Sie leiten bereits seit 1999 die Aerodynamik bei Mercedes-Benz. Viele Zukunftsszenarien von damals sind heute bereits Realität. Was hat sich verändert?

Zunächst einmal sind unsere Fahrzeuge massiv windschnittiger geworden und haben sich in vielen Segmenten an die Spitze gesetzt. Hierbei sind zwei Werte entscheidend: Der cw-Wert als Messgröße für die aerodynamische Formgüte des Fahrzeugs sowie die Stirnfläche in Quadratmeter.

Die neue A-Klasse Limousine ist mit einem cw-Wert von 0,22 und einer Stirnfläche von 2,19 m² das strömungsgünstigste Fahrzeug weltweit. Damit kommt sie der „Aerodynamik-Schallmauer“ von 0,2 verdammt nahe. In den 70ern waren noch cw-Werte zwischen 0,4 und 0,5 üblich.

Und bei den SUVs?

Auch im SUV-Segment haben wir in den letzten Jahren echte Quantensprünge gemacht: Die SUV-Schallmauer von 0,3 durchbricht der neue GLE mit einem cw-Wert von 0,29. Das hat natürlich auch positive Auswirkungen auf die Akustik: Im Vergleich zu 1999, als wir mit der Windgeräuschoptimierung erst so richtig angefangen haben, sind unsere Autos sehr viel leiser geworden. Beim GLE konnten wir die Windgeräusche um rund zwei Drittel im Vergleich zum Ursprungsmodell reduzieren, bei der A-Klasse sind es immerhin 60 Prozent.

Welchen Einfluss hat die Aerodynamik heute auf die Erreichung von CO₂ -Zielen?

Einen erheblichen. Sowohl Einzel- als auch Flottenziele sind für Europa inzwischen sehr sportlich. Unsere Fahrzeuge sind in den letzten Jahren nicht leichter geworden, da Raum-, Sicherheits- und Komfortansprüche gewachsen sind. Diese Steigerung muss durch effizientere Antriebstechnik – und eben bessere Aerodynamik – überkompensiert werden. Ein niedriger Luftwiderstand senkt darüber hinaus den Kraftstoffverbrauch unter Alltagsbedingungen.

Gibt es eine Faustformel?

Klar! Senken wir den cw-Wert um 0,01 ergab sich im NEFZ eine Einsparung von knapp 1 Gramm CO₂ pro Kilometer. Nach dem neuen WLTP sind es bis zu 1,5 Gramm und auf der Autobahn je nach Geschwindigkeit bis zu 8 Gramm CO₂ pro Kilometer.

Was ändert sich für Sie mit der Umstellung auf den nun weltweit geltenden Testzyklus WLTP?

Für uns Aerodynamiker sehr viel: Die um 35 Prozent höhere Durchschnittsgeschwindigkeit des WLTP (NEFZ 34, jetzt 46 km/h) ist da der kleinere Part. Die größte Umstellung erleben wir dadurch, dass der WLTP erstmals sämtliche Sonderausstattungen (SA) berücksichtigt. Die Veränderung des cw-Wert jeder denkbaren SA-Kombination müssen wir auf 2 Prozent genau angeben. Sie können sich vorstellen, dass das bei den vielen aerodynamisch relevanten SAs eine ganz schöne Detailarbeit bedeutet.

Lang hieß es: Wer Weltrekorde im cw-Wert brechen will, ist auf ein möglichst langes Heck angewiesen. Heute erreichen auch SUVs Bestmarken in der Aerodynamik. Was hat sich verändert?

Ein langes, sich verjüngendes Heck ist immer noch gut für die Aerodynamik – das liegt ganz einfach am dort entstehenden Unterdruck. Aber mittlerweile wissen wir, dass die perfekte Abstimmung des Hecks genauso wichtig ist wie seine Länge: es geht auch darum, Energie-zehrende Längswirbel zu verhindern.

Sie haben etwas ähnliches vielleicht schon mal bei Flugzeugen gesehen: Diese haben inzwischen alle kleine Winkel an den Flügelspitzen, sogenannte Winglets, die genau solche Längswirbel reduzieren - so wie das Greifvögel schon seit Jahrtausenden machen.

Wie machen Sie diese Längswirbel sichtbar?

Früher haben wir das im Windkanal mit Hilfe von Wollfäden („Die habe übrigens nicht ich erfunden!“ - lacht), später dann mit Rauch gemacht, heute nehmen wir die digitale Strömungsberechnung zu Hilfe: dadurch können wir Wirbelstrukturen nicht nur optimal identifizieren, sondern auch bis zu ihrer Entstehung zurückverfolgen und manchmal sogar eliminieren. Das hilft uns Aerodynamikern sehr – gerade wenn in puncto Design alle Zeichen auf ein sportliches, breites Heck mit breiter Spur und breiten Schultern stehen.

Mercedes-Benz S-Klasse Limousine Baureihe 126 (1979-1991)
Mercedes-Benz S-Klasse Limousine Baureihe 126 (1979-1991)

Sie haben vorhin von Greifvögeln gesprochen. Welche Rolle spielt die Bionik heute für die Aerodynamik?

Wir verstehen heute viele Lösungen, welche die Natur geschaffen hat. Aber wir wissen auch: In der Natur gibt es keine Räder, die wiederum für uns in Bezug auf den Luftwiderstand eine Hauptrolle spielen. Daher ist die Bionik für die Aerodynamik nur wenig relevant.

Mit den gewachsenen Anforderungen steigen auch die Ansprüche an einen ganzheitlich, nachhaltigen Entwicklungsprozess. An welchem Punkt ist Ihre Expertise gefragt?

Von den ersten Proportionsmodellen bis zur Modellpflege. Wenn Sie beispielsweise schon an der Grundform eines neuen Fahrzeuges etwas verschlafen, können Sie hinterher alles richtig machen und erreichen trotzdem keine wirklich guten Werte mehr. Zudem sind wir durch die neue Gesetzgebung bei jeder kleinen Änderung betroffen, die an der Außenhaut, im Motorraum oder am Unterboden die Strömungsverhältnisse ändert.

Teddy Woll (Mitte) mit zwei Experten aus seinem Team - Martin Konermann (links) und Erich Jehle-Graf (rechts)
Teddy Woll (Mitte) mit zwei Experten aus seinem Team - Martin Konermann (links) und Erich Jehle-Graf (rechts)

Vieles davon berechnen Sie heute bereits am Computer. Sind die Stunden des Windkanals in Zeiten von Digitalisierung und voller Vernetzung gezählt?

Nein, Computer und Windkanal sind hervorragende Tools und ergänzen sich in idealer Weise.

Wie sieht das Zusammenspiel aus?

In der frühen Phase – also etwa bis im Design die ersten Modellentscheide anstehen – verlassen wir uns in der Tat inzwischen komplett auf die Strömungs-Berechnung. Denn diese braucht keine aufwändigen Modelle aus Ton oder Schaum und zeigt die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Form-Parametern sehr genau. Einige Fahrzeuge entwickeln wir auch in der späten Phase rein digital und kommen bei der Optimierung des Luftwiderstands ganz ohne die Arbeit im Windkanal aus. Allerdings sind das Fahrzeuge, die keine cw-Wert-Rekorde einfahren sollen, sondern eine sehr hohe Design-Priorität und nur einen kleinen Flottenverbrauchs-Effekt haben.

Für alle anderen geht kein Weg am Windkanal vorbei?

So ist es. Insbesondere, wenn wir uns mit den Designern mal nicht einig sind, ist der Windkanal unabdingbares Tool, um die „perfekte“ Lösung zu finden. Für eine detaillierte Ausoptimierung bis auf halbe Tausendstel hinter dem Komma ist der Windkanal unersetzlich, da er sehr genau und sehr schnell ist. Wenn Sie gut vorbereitet in den Windkanal gehen, können Sie in acht Stunden bis zu 40 Varianten durchmessen. Innerhalb von fünf Minuten basteln wir schnell noch etwas Pappe ans Heck und führen eine Messung durch, für die der Rechner immer noch etwa einen Tag braucht.

Die Mercedes-Benz S-Klasse im Windkanal
Die Mercedes-Benz S-Klasse im Windkanal
Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe 116 (1972-1980)
Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe 116 (1972-1980)
Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe 126 (1979-1991)
Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe 126 (1979-1991)
Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe 140 (1991-1998)
Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe 140 (1991-1998)
Mercedes-Benz S-Klasse (2013)
Mercedes-Benz S-Klasse (2013)
Mercedes-Benz S-Klasse Cabriolet (2015)
Mercedes-Benz S-Klasse Cabriolet (2015)
Die Mercedes-Benz S-Klasse im Windkanal
Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe 116 (1972-1980)
Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe 126 (1979-1991)
Mercedes-Benz S-Klasse Baureihe 140 (1991-1998)
Mercedes-Benz S-Klasse (2013)
Mercedes-Benz S-Klasse Cabriolet (2015)

Heißt das, der Windkanal wird durch den WLTP noch wichtiger?

Ja, das kann man so sagen. Wie vorhin schon kurz angesprochen, ist seit Einführung des WLTP der Luftwiderstand inklusive Sonderausstattungen zertifizierungs-relevant. Das heißt wir müssen uns auch hier auf den Windkanal zu 100 Prozent verlassen.

Inwieweit können Sie heute bereits Windgeräusche digital simulieren?

Die Windgeräuschentwicklung ist in ihrer Komplexität auf Jahre nicht im Rechner leistbar. Neben der Strömung müssen auch die Schallentstehung und vor allem die Schallausbreitung angemessen simuliert werden, was aufgrund unterschiedlicher Pegel und Längenskalen von Turbulenz und Schall kein leichtes Unterfangen ist. Zwar sind wir bei der Geräuschentstehung inzwischen schon sehr weit, aber bis wir Geräuschpfade durch unterschiedlichste Materialien wie Glas, Stahl, Gummi und Kunststoffe vernünftig simulieren können, wird noch etwas Zeit ins Land gehen. Stand heute ist unser leisester Aeroakustik-Windkanal der Welt aus unserem Arbeitsalltag nicht wegzudenken.

Herr Woll, wir danken Ihnen für diese spannenden Einblicke in Ihren Arbeitsalltag und freuen uns auf die Fortsetzung zum Thema Aerodynamik bei Elektrofahrzeugen.