Wie der metallische 3D-Druck die Fertigung verändern könnte

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Drucksache.

Mit heißen Sachen kennen sich Michael Lahres und Oliver Neufang aus: Sie haben schließlich jeden Tag mit Temperaturen um die 680 Grad Celsius zu tun. So heiß ist der Strahl des Lasers, der feinstes Aluminiumpulver zum Schmelzen bringt, so dass es anschließend in einem Druckverfahren zum Bauteil wird. Anders gesagt: Bei Daimler sind Autoteile aus dem 3D-Drucker längst keine weit entfernte Zukunftsvision mehr – sondern Gegenwart.

8 Min. Lesedauer

von Vivienne Brando, Autorin
erschienen am 19. März 2020

„Beam me up, Scotty!“ In den unendlichen Weiten von Star Trek wurde an Bord des Raumschiffes Enterprise schon in den 1960er-Jahren Materie durchs All gebeamt und am Zielort wieder in die Ausgangsform zurückversetzt. Sogar die Protagonisten des Weltraum-Epos ließen sich auf beinah magische Weise vom einen Ort zum anderen beamen, wo sie sogar voll funktionsfähig und in der richtigen Reihenfolge der Körperteile ankamen. Manche Cineasten unken ohnehin, dass sich die Star-Trek-Macher vor allem aus einem Grund für das Beamen als kosmische Fortbewegungsmethode entschieden: Vor mehr als 50 Jahren war es angeblich zu aufwendig und zu teuer, Szenen zu produzieren, in denen die Enterprise auf einem fremden Planeten landet oder abhebt.

Während sich die Wissenschaft bis heute darüber streitet, ob eine solche Teleportation jemals möglich sein wird, gibt es heute immerhin Technologien, die den Laien ganz entfernt ans Beamen erinnern. Eine davon heißt Additive Manufacturing – und sie ist längst mehr als Science Fiction oder Zukunftsträumerei.

Bei Daimler hat die Zukunft des 3D-Drucks einen Namen: NextGenAM

Das Verfahren verwandelt digitale Daten in reale dreidimensionale Formen. Im 3D-Drucker wird Metallpulver Schicht für Schicht aufgetragen, per Laser geschmolzen und blitzschnell erhärtet. Mit dieser Technologie werden unter anderem Bauteile für die Luft- und Raumfahrt oder Prototypen für die Automobilbranche gefertigt. Es gibt jedoch auch Anwendungsbeispiele aus ganz anderen Bereichen: In der Medizintechnik werden so Edelstahl- und Keramikprothesen hergestellt und selbst Schmuck aus edlen Materialien wie Platin, Gold und Silber kann inzwischen aus dem 3D-Drucker kommen.

Die 3-D-Druck-Fertigungslinie bietet einige Vorteile.
Die 3-D-Druck-Fertigungslinie bietet einige Vorteile.

So brandneu ist das im Grunde genommen auch gar nicht. Denn das Selective Laser Melting (SLM), so der Fachbegriff für diese Form des 3D-Drucks, wird im industriellen Maßstab bereits seit mehr als zehn Jahren eingesetzt. Die Herausforderung für die Automobilindustrie liegt woanders: Nämlich darin, diese Methode für eine automatisierte Fertigung größerer Bauteil-Stückzahlen zur Serienreife zu bringen.

Genau dort setzt bei Daimler das Projekt NextGenAM an. Der Projektname steht kurz für Next Generation of Additive Manufacturing, also die nächste Generation in der additiven Fertigung, die Daimler seit 2017 mit seinen Partnern Premium AEROTEC  und EOS  entwickelt. „Wir sind auf einem weißen Blatt Papier gestartet“, erinnert sich Michael Lahres, Leiter Additive Verfahren bei Daimler, an den Ausgangspunkt des Pilotprojektes. Dabei ging es nicht um die Entwicklung ganz neuer Technologien, sondern um die intelligente Vernetzung der Expertisen der drei Partner. Ziel war es, mit den verfügbaren Komponenten, also den verfügbaren Maschinen und dem verfügbaren Material, eine digitalisierte Fertigungslinie zu etablieren, die Aluminiumteile für die Auto- und Luftfahrtbranche deutlich wirtschaftlicher fertigen kann als bisher.

Inzwischen ist das Projekt erfolgreich abgeschlossen: Die 3D-Druckkosten für eine Pkw-Dämpferhalterung als Musterbauteil wurden um rund 50 Prozent reduziert– und das bei gleichbleibender Qualität. Gleichzeitig bestand der Produktionsprozess bei Premium AEROTEC die Auditierung nach den Vorgaben des strengen Industriestandards VDA 6.3, was Voraussetzung für einen Serieneinsatz ist.

Oliver Neufang (links) und Michael Lahres mit zwei Dämpferhaltern.
Oliver Neufang (links) und Michael Lahres mit zwei Dämpferhaltern.

Wachstum um Haaresbreite

„3D-Druck ist ein quasi neues Urformverfahren, das uns ergänzend zu herkömmlichen Verfahren wie Gießen oder Sintern insbesondere für Metalle wie Aluminium oder Stahl neue Möglichkeiten gibt, Material im Urzustand zu generieren. So können wir Ersatz- und Serienbauteile ohne Werkzeuge fertigen“, erklärt Michael Lahres. Die ganze technische Faszination des Additive Manufacturing  wird deutlich, wenn er über die Details spricht. Voraussetzung für die additive Fertigung ist ein digitales Modell des zu druckenden Bauteils, das dann in Schichten zerlegt wird – jede zwischen 30 und 80 Mikrometer (µm) dünn. Zum Vergleich: Das Haar eines Europäers misst 40 bis 60 µm. Es geht also grob um eine Haaresbreite, in der jeweils eine neue Pulverschicht aufgetragen, anschließend von den Lasern exakt an den Flächen des Bauteils geschmolzen und so mit der darunterliegenden Schicht verbunden wird. So wächst das Bauteil im Pulverbad heran. Festigkeit, Eigenschaften und Materialqualität des Bauteils lassen sich steuern durch unterschiedliche Korngrößen des Pulvers zwischen 5 und 60 µm, durch das Mischungsverhältnis und auch durch die Verteilung der verschiedenen Korngrößen im Pulver.

„Mit optimaler Bauteilbehandlung können wir das Maximum für die spezifische Anwendung herausholen.“

Michael Lahres Leiter Additive Verfahren bei Daimler

„Wenn die Metalllegierung vergleichbar ist, übertreffen die Materialeigenschaften des 3D-Drucks in der Regel die eines Gussteils. Durch die Wärmeeinbringung des Lasers verfestigt sich das Material konstanter“, sagt Michael Lahres. Allerdings wäre ein solches Teil noch nicht verwendbar. Die Addition der Schichten mit radikaler Erhitzung und schneller Erkaltung schafft „eingefrorene, metastabile Gefügezustände im Material“, so der Fachterminus. Lahres erklärt: „Damit das Bauteil nicht zu spröde ist, müssen wir es nachträglich wärmebehandeln.“ So wird die Struktur des Materials gleichmäßiger und auf das Anforderungsprofil des Einsatzzwecks getrimmt.

Dieses weite Feld bezeichnet Lahres als Urwissen des Konzerns. „Durch das tiefe Grundverständnis der Werkstoffe können wir mit optimaler Bauteilbehandlung das Maximum für die spezifische Anwendung herausholen.“ Hier zeigt sich, dass die Zukunft nicht nur von der Digitalisierung bestimmt wird. Ohne die fundamentalen Kenntnisse der Materialwissenschaft, über die die Experten bei Daimler verfügen, wäre NextGenAM nicht erfolgreich gewesen. Ohne die Digitalisierung aber auch nicht.

Die Produktion läuft vollautomatisch

„Das Geheimnis liegt darin, dass wir unsere Kompetenzen paaren“, sagt Oliver Neufang. Er arbeitet als Ingenieur in der Konzernforschung von Daimler, genauer gesagt im Team Fertigungsprozesse und Fabrikintergration, und war mit dieser Expertise führend an NextGenAM beteiligt. „Bei der Definition des neuen Prozesses hatten wir die Möglichkeit, den Gedanken der Industrie 4.0 grundlegend zu verankern. Das haben wir erstmals in der Druckszene etabliert. Sobald das Bauteil in Daten überführt wurde, arbeitet die Anlage autonom.“

Alle Prozessschritte der Produktionskette sind miteinander vernetzt und laufen vollautomatisch.
Alle Prozessschritte der Produktionskette sind miteinander vernetzt und laufen vollautomatisch.

Alle Prozessschritte der skalierbaren Produktionskette sind miteinander vernetzt und über einen zentralen Leitstand gesteuert: Datenvorbereitung, Pulverbereitstellung, AM-Laserprozess, Abschütteln des nicht geschmolzenen Pulvers, Wärmebehandlung, Qualitätssicherung und Abschneiden des Bauteils von der Trägerplatte. Roboter und ein fahrerloses Transportsystem sorgen für einen reibungslosen Durchlauf der Teile durch die gesamte Produktionslinie, die eine ganze Serie herstellen oder schon im nächsten Zyklus ein ganz anderes Bauteil fertigen kann. „Und falls am Ende der Produktion durch die vollautomatische Qualitätssicherung ein fehlerhaftes Bauteil identifiziert wird, kann die Anlage dank der durchgängigen 3D-Datenkette am Anfang der Produktion entsprechende Korrekturen vornehmen, damit nachfolgend produzierte Bauteile diesen Fehler nicht mehr aufweisen. Das ist Industrie 4.0!“

„Wir hatten die Möglichkeit, den Gedanken der Industrie 4.0 grundlegend zu verankern.“

Oliver Neufang Ingenieur in der Konzernforschung bei Daimler

Mit einem Dämpferhalter für einen Pkw-Motor als Referenzobjekt hat NextGenAM die technische und vor allem wirtschaftliche Machbarkeit des 3D-Drucks bewiesen. Dieses Musterteil war schon vor über drei Jahren in Form und Material für die neue Fertigungsmethode optimiert worden. Es wurde über die Projektlaufzeit immer wieder herangezogen, um den Stand der Technologieentwicklung und die Kosten abzuschätzen. Und, wie gesagt: Am Ende stand bei hoher Qualität eine Kostenreduzierung um rund 50 Prozent. Auch konnten im Laufe des Pilotprojekts die Eigenschaften der klassischen Alu-Legierung (AlSi10Mg) kontinuierlich verbessert werden, wodurch sich zum Beispiel die Materialfestigkeitswerte und die Oberflächenqualität deutlich steigern ließen. Wie ein herkömmliches Gussteil geht auch der 3D-Druck-Rohling bei Bedarf noch in die Nachbearbeitung, um Oberflächen auf die Anwendung hin zu optimieren oder Gewinde und Bohrungen zu schneiden.

3D-Druck schafft Teile on demand

Das Projekt NextGenAM hat die Grundlagen für eine künftige Serienfertigung von Druck-Bauteilen für Daimler gelegt. Künftig sind neben Kleinstserien und Teilen für die Vorentwicklung auch größere Stückzahlen im 3D-Druck möglich. Für Oliver Neufang ist dabei ein besonderes Anliegen, dass das Wissen aus der Konzernforschung den Weg in das Entwicklungsprojekt gefunden hat: „Wir binden viele Disziplinen ein und stehen mit den Kollegen im Austausch. Sie profitieren von unserem Know-how im Additive Manufacturing: Was ist möglich – und was nicht? Es ist wichtig abzuschätzen, welche Einflüsse die einzelnen Komponenten haben. Mit diesem Wissen kann der Ingenieur zum Beispiel Hohlräume anordnen, die bei einem Gussbauteil nicht möglich wären. Etwa zur Gewichtsreduzierung.“ Geeignete Bauteile können also gleich im Hinblick auf die Möglichkeiten des 3D-Drucks entwickelt werden: mit neuen, integrierten Funktionalitäten, bionischen Formen und optimiertem Gewicht – was insbesondere für Elektrofahrzeuge interessant ist.

Gerade auch im Ersatzteilbereich eignet sich das 3D-Druckverfahren. Zum einen lassen sich so selten benötigte Teile im Fall eines Defekts des entsprechenden Werkzeugs oft günstiger nachfertigen, als wenn erst eine neue Gussform erstellt werden muss. Dafür müssen nur die Daten zum Werkstück dreidimensional aufbereitet werden. Wesentlich größere Vorteile hat Daimler aber in der Vision Digital Stock im Blick: die zentrale Bereitstellung von digitalen Fertigungsdaten für den dezentralen 3D-Druck von Ersatzteilen. Damit könnten Teile bei Bedarf, also on demand, für eine minimale Bevorratung gedruckt werden, statt sie mit hohen Kosten in großen Stückzahlen zu lagern.

Dem 3-D-Druckverfahren sind (fast) keine Grenzen gesetzt.
Dem 3-D-Druckverfahren sind (fast) keine Grenzen gesetzt.

Offen für technologische Fortschritte

Das alles zeigt: NextGenAM ist ein Meilenstein auf dem Weg zur digitalen Fertigung. Eines ist Michael Lahres und Oliver Neufang dabei besonders wichtig: Der Prozess ist nicht auf den heutigen Anlagenstatus festgelegt, sondern offen für technologische Fortschritte bei den Komponenten des 3D-Druck-Systems, bei größeren Bauräumen und bei weiterentwickelten Materialien. Und doch hüten sich die beiden Experten davor, die Technologie als Heilsbringer für alle Lebenslagen anzupreisen. Im Gegenteil: „Es gibt technologisch gute Gründe, warum Bauteile mit den etablierten Fertigungsmethoden gegossen, gepresst, geschmiedet, gebogen oder geformt werden“, sagt Michael Lahres. „Der 3D-Druck wird nicht alle anderen Verfahren ersetzen, sondern sie sinnvoll ergänzen. Wir werden jene Bauteile identifizieren, die sich per Druck technisch und wirtschaftlich vorteilhafter herstellen lassen.“

Kommt das gedruckte Auto?

Bleibt eine letzte Frage: Kommt irgendwann ein ganzes Auto aus dem 3D-Drucker? Theoretisch könne man sicher vieles realisieren. Aber in der Praxis sehen die beiden Experten das nicht. Dazu sei ein Fahrzeug dann doch zu komplex. Es bleibt also auch in Zukunft noch Spielraum für ein wenig Science Fiction.

Vivienne Brando

würde sich in Zeiten des Technologie-Wettlaufs manchmal gerne von Scotty auf sein Raumschiff beamen lassen. Der Tech-Freak wäre sicher auch von unserer metallischen 3D-Druck-Technik beeindruckt und ein allzeit guter Ersatzteil-Abnehmer.

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