Eine kleine Geschichte der Navigation

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Vom Atlas zum MBUX.

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Daimler-Blog veröffentlicht.

Man breitet die Faltkarte umständlich auf dem Schoß aus, dreht sie bis die Richtung stimmt, gibt dem Fahrer ein paar Anweisungen, verwechselt rechts und links, verfährt sich am Ende doch – und streitet sich den Rest der Fahrt. Das Lesen einer Karte war für uns Menschen viele Jahre lang eine zwar vertraute, aber oftmals recht zermürbende Art und Weise, den Weg von A nach B zu finden.

8 Min. Lesedauer

von Steffen Tacke, Verantwortlicher für die weltweite Entwicklung der MBUX Navigationssysteme für die Mercedes-Benz Pkws
erschienen am 28. Oktober 2019

Glücklicherweise hat sich der Umgang mit Kartenmaterial im Lauf der Zeit erheblich verbessert: von dicken Straßenatlanten unter dem Fahrersitz über ausgedruckte Schritt-für-Schritt-Wegbeschreibungen und den ersten, einfachen Pfeil auf dem Navigationssystem in der Mittelkonsole bis hin zu den heute daueraktiven und vielseitigen Bildschirmkarten, die mit Online-Datenquellen verknüpft sind und konstant auf diese zugreifen.

Doch die größten Veränderungen in Sachen Navigation stehen uns gerade erst bevor. Karten werden bald schon „kontextsensitiv“ sein. Dann kennen sie meinen Kalender, zeigen mir Restaurants in der Nähe, heben wichtige Punkte mit 3D-Icons hervor, geben einen Überblick über die Benzinpreise und noch vieles mehr. Das ist aber nur der erste Kilometer einer sehr viel längeren, aufregenderen Reise, die uns in das Zeitalter des autonomen Fahrens bringt.

Der lange Weg zur exakten Karte

Während im Mittelalter viele Karten religiös geprägt waren und unentdeckte Bereiche mit fantastischen Bildern von wilden Tieren, Monstern und allen möglichen Verzierungen ausstaffiert wurden, waren die Menschen im Ausgang des 18. Jahrhunderts erstmals mutig genug, weiße Flächen auf Karten zu belassen – quasi als Ansporn, sich wie Alexander von Humboldt hinauszuwagen und die Welt zu erkunden. Hingegen wird die Karte der Zukunft nicht einmal mehr von Menschen, sondern ausschließlich von vernetzten und autonomen Fahrzeugen gelesen werden. Das ist nicht weniger als ein historischer Meilenstein in der Geschichte der Kartografie! Die entsprechenden Kartenformate dafür werden bereits entwickelt.

Welch große Fortschritte die Kartografie und mit ihr die Navigation gemacht hat, zeigt die Entwicklung der Navigationsgeräte in den Mercedes-Benz Fahrzeugen: Das erste APS (Auto Pilot System) wurde 1995 eingeführt. Darauf folgte 1998 das Navigationssystem COMAND und 2011 dessen Online-Version mit Echtzeit-Verkehrsdaten und integrierten Apps.

Ab 1995 ist in den Mercedes-Benz S-Klasse Limousinen und Coupés der Baureihe 140 (1991 bis 1998) das Navigationssystem Auto-Pilot-System APS als Sonderausstattung erhältlich.
Ab 1995 ist in den Mercedes-Benz S-Klasse Limousinen und Coupés der Baureihe 140 (1991 bis 1998) das Navigationssystem Auto-Pilot-System APS als Sonderausstattung erhältlich.

Die Konnektivität verbesserte sich weiter mit der Einführung von COMAND Online in Kombination mit Mercedes me im Jahr 2014. Nutzer können seitdem zum Beispiel auf der Couch sitzend Ziele auf ihrem Smartphone eingeben und direkt an das Fahrzeug senden. Außerdem kam der automatische Notruf hinzu. 2016 wurden in der E-Klasse die sogenannten SNAP-Onlinedienste eingeführt. Sie lokalisieren die niedrigsten Benzinpreise im Umfeld, zeigen die örtliche Wetterprognose oder freie Parkmöglichkeiten und ermöglichen eine Fahrzeug-Infrastruktur- bzw. Car-2-X-Kommunikation, um vor lokalen Gefahren zu warnen.

Die neueste Innovation in diesem Bereich, die Daimler 2018 bei der Consumer Electronics Show (CES) in der A-Klasse vorgestellt hat, heißt MBUX (kurz für: Mercedes-Benz User Experience). Mit MBUX wird die Entwicklung der Navigation durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Augmented-Reality-Elementen weiter vorangetrieben. Relevante Informationen erscheinen direkt auf dem Bildschirm des Navis und die Steuerung erfolgt ganz einfach per Spracheingabe mit „Hey Mercedes!“ – das bedeutet wohl das endgültige Aus für einen Streit zwischen Fahrer und Beifahrer.

Und das Ende der Kartenentwicklung ist noch lange nicht in Sicht, wie neue Dienste wie what3words zeigen. Das Londoner Start-up hat die gesamte Welt in 3×3 Meter große Kacheln eingeteilt und jedem dieser 57 Billionen Quadranten eine einzigartige Kombination aus drei Wörtern wie „Tisch.Stuhl.Lampe.“ zugewiesen. Das Ergebnis: Niemand muss sich mehr unbekannte Adressen merken, und es lässt sich an weltweit jeden Ort leicht navigieren – selbst, wenn dieser keine offizielle Adresse hat.

Immer aktiv und immer zuverlässig

IAuch die Technologie, die hinter der Schnittstelle Mensch-Maschine steckt, hat einen langen Weg hinter sich. Früher arbeiteten Navigationssysteme noch mit bis zu neun CD-ROM’s als Datenspeicher, dann kamen DVD’s und schließlich SD-Karten mit immer mehr Speicherkapazität von bis zu 256 Gigabyte. Allerdings benötigen die Systeme von heute nicht mehr nur statische, sondern auch unterwegs immer mehr aktuelle Informationen in Echtzeit. Dazu fragen sie eine Vielzahl von Online-Datenquellen ab und laden Updates „Over-the-Air“ aus der Cloud herunter.

Die Daten kommen von Unternehmen wie den europäischen Navigationsdienstleistern HERE oder TomTom sowie von Informationsplattformen wie Yelp und TripAdvisor. Seit deren Informationen mobil zur Verfügung stehen, sind Navigationssysteme unendlich flexibel und erweiterbar geworden. Nur ein Beispiel: die Straßenverhältnisse. Aktuelle Informationen zu Verkehr und Baustellen werden heute alle zwei Minuten in das Fahrzeug übertragen. Das verhindert unnötiges im Stau stehen – und wiederum einen Streit.

Stets verfügbare und zuverlässige Navigationsdaten – das ist es, was die fahrzeugintegrierte Navigation eines Erstausrüsters (OEM) wie Daimler von den Karten-Apps auf unseren Smartphones unterscheidet. Fahrer müssen schließlich darauf vertrauen können, dass ihr Navigationssystem sie niemals im Stich lässt – auch dann nicht, wenn das Handy gerade keinen Netzempfang hat.

Die relevanten Informationen in jedem Mercedes-Benz weltweit aktuell zu halten, birgt einige Herausforderungen. Zunächst müssen die Navigationssysteme über eine gute und zuverlässige Ortung verfügen, egal wo auf der Welt sich das Auto gerade befindet. Dazu wird in Europa und den USA vor Auslieferung ein Basis-Datensatz in die Software des Fahrzeugs geladen.

Die Daten stammen von den bekannten Navigationsunternehmen. In asiatischen Märkten wie China, Japan oder Korea, wo sich Adressen nicht an festen Hausnummern, sondern überwiegend an „Points of Interest“ orientieren, wird das Material regionaler Kartenanbieter genutzt. In einigen Ländern müssen Aktualisierungen zudem von der jeweiligen Regierung abgesegnet werden. Die Nutzung der Daten außerhalb des Landes ist dort meist verboten.

Navigation: Asiatische Märkte wie China bevorzugen ihre eigenen Anbieter.
Navigation: Asiatische Märkte wie China bevorzugen ihre eigenen Anbieter.

Auswirkungen auf den Betrieb der Navigationssysteme haben auch Größe und Bevölkerungsdichte eines Landes, einer Region oder Provinz sowie das Tempo der urbanen Entwicklung. All das bestimmt Anzahl und Umfang der Aktualisierungen und wie diese eingespielt werden. Die Systeme erhalten heute pro Quartal im Durchschnitt zwischen 250 und 350 Megabyte aktueller Daten, entweder als Over-the-Air-Update oder über einen USB-Stick als Bestandteil eines Infotainment-Pakets. Je dichter eine Region besiedelt ist und je mehr Änderungen sich ansammeln, desto mehr Daten müssen auch übertragen werden. Aus diesem Grund werden Updates für größere Länder wie China normalerweise in mehrere Teile geteilt. Alleine die Daten für Peking mit seinen 24 Millionen Einwohnern sind so umfangreich wie für ein europäisches Land.

Die Navigation hat erhebliche Fortschritte gemacht.
Die Navigation hat erhebliche Fortschritte gemacht.

Und es gibt einen weiteren wichtigen Faktor, der beeinflusst, wie Karten künftig entwickelt und genutzt werden. Da immer mehr Autos mit Fahrerassistenzsystemen (FAS) ausgestattet sind oder bald sogar vollständig autonom im Straßenverkehr unterwegs sein können, müssen Karten zwingend für Maschinen lesbar konzipiert werden. Richtungsweisend sind hierbei die neuen Karten von HERE, einer Ortungstechnologie-Plattform, an der Daimler, BMW, Audi und weitere Unternehmen beteiligt sind. Sie bilden die Grundlage für einen „elektronischen Horizont“, der Fahrzeuge im Voraus mit fein gegliederten Informationen zu Straßengeometrie, erlaubten Fahrspuren, Abbiegungen und Gefällen bzw. Steigungen bis hin zur Lage und Größe von Bordsteinen versorgt.

Die zentimetergenauen Angaben ermöglichen es autonomen Fahrsystemen, ein Fahrzeug exakt bis zu der Spur, auf der es fährt, zu orten, eine Route zu planen und zum Ziel zu navigieren. Dabei beeinflussen die Karten der Zukunft mit ihren Daten sämtliche Komponenten eines Fahrzeugs – bis hin zum Antriebsstrang und bilden so die Basis für das autonome Fahren. Experten erwarten, dass derartig detailreiches Kartenmaterial für städtische Umgebungen schon in den kommenden fünf Jahren verfügbar sein wird.

Karten regen die Phantasie des Menschen an.
Karten regen die Phantasie des Menschen an.

Wenn Computer fahren, was sehen dann die Menschen?

Menschen, die an das vergleichsweise ungenaue Standard-GPS-System gewöhnt sind, werden von den neuen Karten mit ihrer schier unendlichen Informationsdichte nichts mehr wahrnehmen. Aber trotzdem wollen sie natürlich Orientierung. Was also werden die Menschen sehen, wenn sie als Fahrer bzw. als Mitfahrer in einem autonom fahrenden Auto unterwegs sind?

Eins ist sicher: Die Zukunft der Navigation wird das Reisen zu einem Erlebnis machen, bei dem Komfort und Bequemlichkeit im Vordergrund stehen. Neue Systeme können leistungsstarke Visualisierungen mit Karten und Navigation verbinden, wodurch eine hochauflösende „Mixed Reality“ entsteht, bei der Elemente aus Augmented- und Virtual-Reality mit der echten Welt draußen vor der Windschutzscheibe verschmelzen. Sobald das Auto die Navigation übernimmt, können sich unsere Augen und unser Geist auf individuelle, nahegelegene „Points of Interest“ und auf persönliche Informations- oder Unterhaltungsangebote richten, die genau dort und genau zu dem Zeitpunkt für uns relevant sind.

Mit der Navigation der Zukunft werden wir uns also nicht nur nie mehr verfahren. Uns wird auch nie mehr langweilig sein. Und Streit gibt es nur noch, welches der vielen Angebote wir nun wahrnehmen sollen.

Steffen Tacke

Steffen Tacke ist für die weltweite Entwicklung der MBUX Navigationssysteme für Mercedes-Benz PKW verantwortlich. Durch seine langjährige Erfahrung in RD und seinen Background als Informatiker und SW-Entwickler verknüpft er die Welten von Software und Hardware/Fahrzeug bestmöglich. Dieser Blogbeitrag gibt einen Einblick und befasst sich mit den Herausforderungen der Fahrzeug-Navigationssysteme.

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