100 Dinge, die Sie über Mercedes-Benz wissen sollten | #26

100_dinge_radweltrekord

Hinterm Flügeltürer zum Fahrrad-Weltrekord.

José Meiffret war ein High-Speed-Junkie. Todesmutig stellte der Radrennfahrer 13 Geschwindigkeits-Weltrekorde auf. 1962 durchbrach er im Windschatten eines Mercedes-Benz 300 SL Flügeltürers als erster Mensch auf einem Fahrrad die Marke von 200 km/h.

2 Min. Lesedauer

von Holger Mohn, Autor
erschienen am 25. Juni 2021

Höher, schneller, weiter – die Gier nach immer neuen Rekorden liegt in den menschlichen Genen. Bei José Meiffret war die Sucht besonders ausgeprägt. Der Franzose war geradezu besessen von der Idee, der schnellste Mann der Welt auf einem Fahrrad zu sein. Dass er sein Ziel erreichte, verdankte er seiner fanatischen Überzeugung, dass „der Mensch in seinem Wollen über sich selbst hinauswachsen kann“ – und einem Mercedes-Benz.

Es war der 10. Juli 1962 auf der Autobahn A 5 zwischen Lahr und Freiburg. Hierher über die Grenze kam Meiffret für seine Tempofahrten, nachdem ihm sein Heimatland die riskanten Rekordversuche verboten hatte. Der 49-Jährige wollte tatsächlich eine Grenze überschreiten und die hinter einem Pkw erzielte Höchstgeschwindigkeit für einen Menschen auf dem Fahrrad auf über 200 km/h steigern.

Ein Fahrrad Marke Eigenbau

Meiffret war gut vorbereitet. Bereits im Herbst 1961 hatte er seine eigene, 10 Jahre alte Bestmarke von 175,609 auf 186,625 km/h geschraubt. Den Winter über feilte er noch einmal an jedem Detail. Nun erschien ihm die Zeit reif, die magische Grenze von 200 km/h zu durchbrechen. Sein Fahrrad war ein Eigenbau mit verstärktem Rahmen und Felgen aus Holz. Der Antrieb bestand aus einem gigantischen vorderen Zahnkranz mit 175 Zähnen und einem hinteren Ritzel mit 17 Zähnen. So konnte er mit nur einer Umdrehung der Tretkurbeln 16 Meter zurücklegen.

In seinen Plänen spielte ein Mercedes-Benz 300 SL (Baureihe W 198) eine zentrale Rolle. Denn der Flügeltürer fungierte als Schrittmacher. Der Supersportwagen der damaligen Zeit war mit seinen 215 PS stark genug, um das Auto mit dem voluminösen Windschattenaufbau auf die erforderliche Geschwindigkeit zu beschleunigen. Mehr noch: Es war für den Rekordfahrer bei seinem Ritt auf der Rasierklinge überlebenswichtig, dass das Führungsfahrzeug absolut zuverlässig und spursicher seine Bahn zog. Denn es war lebensgefährlich, bei diesem Tempo aus dem Schutz des Windschattens voll in den brutalen Luftwiderstand zu geraten. Mehrfach hatten Meiffrets Versuche nach schweren Stürzen – unter anderem verursacht von einem Motordefekt eines Windschattenwagens – im Krankenhaus geendet. Wochenlang mussten Ärzte damals um das Leben des von Schädelbrüchen gezeichneten Schwerverletzten kämpfen.

1962 durchbricht José Meiffret auf einem Fahrrad die Grenze von 200 km/h – im Windschatten eines Mercedes-Benz 300 SL Flügeltürers.
1962 durchbricht José Meiffret auf einem Fahrrad die Grenze von 200 km/h – im Windschatten eines Mercedes-Benz 300 SL Flügeltürers.

Testament: „Beerdigt mich bitte neben der Strecke“

Zehn Jahre später schreckten Meiffret diese Erfahrungen nicht mehr ab. Er kannte das Risiko. Ein Totenkopf zierte seine Radhose. Und beim Rekordversuch am 10. Juli 1962 trug er einen Zettel mit seinem letzten Wunsch in der Hosentasche: „Im Falle eines tödlichen Unfalls bitte ich die Zuschauer, kein Mitleid mit mir zu haben. Ich bin ein armer Mann, ein Waisenkind seit dem elften Lebensjahr, und habe viel durchgemacht. Der Tod macht mir keine Angst. Dieser Rekordversuch ist meine Art mich selbst zu verwirklichen. Wenn der Arzt nichts mehr für mich tun kann, beerdigt mich bitte neben der Strecke, wo ich gestürzt bin.“

Dazu kam es glücklicherweise nicht. Die perfekte Vorbereitung zahlte sich aus. Der schmächtige, keine 60 Kilo schwere Franzose brachte die gewaltige Übersetzung seines Rennrades mit der Kraft seiner Beine in Fahrt und scherte dann hinter den Schrittmacher ein. Über einen Schalltrichter konnte er dem Fahrer Kommandos zurufen. Beim zweiten Versuch schließlich gelang der Rekord. Nach neun Kilometern Anlauf bewältigte José Meiffret den letzten Kilometer in nur 17,58 Sekunden. Mit den 204,788 km/h stellte er seinen 13. und letzten Fahrrad-Geschwindigkeitsrekord auf. Anschließend widmete sich der auch als Philosoph und Schriftsteller bekannte Sonderling an der Riviera den feinen Künsten und seinem Hobby: der Zucht von Nelken. In seinen preisgekrönten Memoiren betitelte er sein Leben als „Meine Verabredungen mit dem Tod“.

Blitzen-Benz das erste Auto über 200 km/h

Kleine Randnotiz: Schon bei den Autos war die magische Grenze von 200 km/h von einem Benz durchbrochen worden. Die Ingenieure von Benz & Cie. holten 1909 zu diesem Zweck seinerzeit unvorstellbare 200 PS aus einem Motor mit 21,5 Liter Hubraum. Der Blitzen-Benz genannte Rennwagen erreichte damit am 8. November 1909 in Brooklands/England über einen Kilometer mit fliegendem Start eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 202,7 km/h und war damit schneller als jedes andere Landfahrzeug oder auch die damaligen Flugzeuge.

Und heute macht sich die Menschheit auf dem Fahrrad auf, die nächste Marke zu durchbrechen. Nachdem die Amerikanerin Denise Mueller-Korenek 2018 auf dem Bonneville-Salzsee im Windschatten eines Dragster-Rennwagens eine Höchstgeschwindigkeit von 296,01 km/h erreicht hatte, wird der Weltrekord wohl bald auf über 300 km/h gesteigert werden. Die Gier nach immer neuen Rekorden liegt schließlich in den menschlichen Genen.

Holger Mohn

brachte nur ein bewunderndes „Chapó mon ami“ heraus, als er zum ersten Mal Meiffrets Rekordrad und insbesondere den vorderen Zahnkranz von der Größe einer Familienpizza sah. Was muss der Mann für Beine gehabt haben, alleine das anzutreten. Nicht unerwähnt sollte in diesem Zusammenhang bleiben, dass es der Autor selbst einmal mit dem Velo auf sagenhafte 78 km/h (Tacho, nicht geeicht, aus dem Augenwinkel abgelesen…) schaffte. Gut, ganz so eben wie bei Meiffret war die Strecke nicht, es handelte sich vielmehr um ein steiles Gefällstück der Schwäbischen Alb – also quasi freier Fall.

Mehr zum Autor

Alle Artikel dieser Serie