100 Dinge, die Sie über Mercedes-Benz wissen sollten | #19

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Der Mercedes unter den Fahrrädern.

Vor rund 100 Jahren produzierte die Daimler-Motoren-Gesellschaft in Berlin für kurze Zeit keine Automobile – wegen Rohstoff- und Geldmangel. Also taten die Ingenieure das, was sie am besten können: Sie wurden erfinderisch.

3 Min. Lesedauer

von Holger Mohn, Autor
erschienen am 19. Februar 2021

Die Not war groß Anfang der 1920er-Jahre in Deutschland. Der Erste Weltkrieg war gerade einmal ein paar Jahre her, die Spanische Grippe erst seit kurzem überstanden. Und dann folgte zu allem Übel die große Weltwirtschaftskrise mit einer horrenden Inflation. Rohstoffe waren knapp. So knapp, dass die zu Kriegszeiten erweiterten Produktionshallen der Daimler-Motoren-Gesellschaft in Berlin stillstanden. Aber Not macht ja bekanntlich erfinderisch. Also entschlossen sich die Verantwortlichen, „die Werkstätten und Erzeugungsmittel durch Aufnahme neuer Erzeugnisarten nutzbringend zu verwerten“, wie es in einer Pressemeldung von 1923 steht. Das war die Geburtsstunde der Mercedes-Fahrradwerke GmbH in Berlin-Marienfelde.

Der Versailler Vertrag beschränkte die Fertigung von Lkw in Deutschland. Daher war die Anlage frei für die Fahrrad-Produktion.
Der Versailler Vertrag beschränkte die Fertigung von Lkw in Deutschland. Daher war die Anlage frei für die Fahrrad-Produktion.
In der großen Werkstatthalle in Berlin-Marienfelde produzierte die Daimler-Motoren-Gesellschaft zuvor Lkw.
In der großen Werkstatthalle in Berlin-Marienfelde produzierte die Daimler-Motoren-Gesellschaft zuvor Lkw.
Bei der Qualität wurden keine Abstriche gemacht. Laut Katalog müsse das mit Filzscheiben abgedichtete Tretlager zum Beispiel „nur alle 5.000 km“ eingestellt werden.
Bei der Qualität wurden keine Abstriche gemacht. Laut Katalog müsse das mit Filzscheiben abgedichtete Tretlager zum Beispiel „nur alle 5.000 km“ eingestellt werden.
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Modell Nr. 1

Gottlieb Daimler hatte bereits 1885 das erste Motorzweirad mit einem seiner Verbrennungsmotoren, seiner sogenannten Standuhr, ausgestattet und patentieren lassen. Es war praktisch das erste Motorrad der Welt. Nun also ein Rad ohne Motor, dafür aber mit aussichtsreichen Marktchancen. Deutschland brauchte nach dem Krieg schnell erschwingliche Mobilität. Auch Krafträder sollten später in Marienfelde entstehen, dazu kam es aber nie. Nach anfänglichen Verzögerungen aufgrund von personellen und materiellen Ausstattungsschwierigkeiten rollte im Februar 1924 das erste Fahrrad mit Stern aus dem der Fertigungshalle in Berlin-Marienfelde. In dem 150 Meter langen und 19 Meter breiten Werkstattgebäude waren zuvor Lkw gefertigt worden. Bei den Prototypen handelte es sich um das Modell Mercedes Nr. 1, ein „kräftiges Touren-Rad“, wie die Original-Beschreibung ausweist. Dort steht weiter, dass der Rahmen aus „genau gezogenen nahtlosen Stahlrohren von ausgewählter vorzüglicher Güte“ besteht. Die Geometrie ist die eines klassischen Diamantrahmens – an dieser Form hat sich in den letzten 100 Jahren kaum etwas verändert, weshalb die Mercedes Fahrräder auch aus heutiger Sicht noch modern wirken.

Das Mercedes Modell Nr. 1.
Das Mercedes Modell Nr. 1.
So bewegten sich im eleganten Berlin der 1920er-Jahre die feinen Damen und Herren durch die Stadt.
So bewegten sich im eleganten Berlin der 1920er-Jahre die feinen Damen und Herren durch die Stadt.
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Das Modell Mercedes Nr. 2 kam noch etwas edler daher und wurde als „feinstes Tourenrad in Luxus-Ausstattung“ beschrieben. Es war gegenüber Nr. 1 mit einer Torpedo-Freilaufnabe von Fichtel & Sachs, Weißwandreifen sowie in Holzoptik lasierten Stahlfelgen ausgestattet. Zu Beginn der Produktion waren sechs Modelle verfügbar, etwa der „Feine Straßen-Halbrenner Mercedes Nr. 3“, das „Feine Damenrad Mercedes Nr. 5“ oder das „Feinste Damenrad in Luxus-Ausstattung Mercedes Nr. 6“. Im Laufe der Jahre wuchs das Angebot auf insgesamt 13 Modelle. Die Tourenräder waren ab Werk tiefschwarz emailliert, weitere Farben konnten gegen Aufpreis bestellt werden. Die Rennräder gab es laut Katalog auch in Rot und Grün. Ein weiteres Extra waren Lampen der Marke „Radsonne“, die wie alte Grubenlampen mit Karbid leuchteten. Die Flamme, die beim Verbrennen des Gases entsteht, das Karbid bzw. Kalziumkarbid in Reaktion mit Wasser erzeugt, ist äußerst hell.

Auf dem Bild des „feinen Straßen-Halbrenners” Modell Mercedes Nr. 3 ist der Mercedes-Stern im Tretlager gut erkennbar.
Auf dem Bild des „feinen Straßen-Halbrenners” Modell Mercedes Nr. 3 ist der Mercedes-Stern im Tretlager gut erkennbar.
Das Bild aus dem historischen Katalog der Mercedes-Fahrradwerke GmbH zeigt das „feine Damenrad“ Modell Mercedes Nr. 5.
Das Bild aus dem historischen Katalog der Mercedes-Fahrradwerke GmbH zeigt das „feine Damenrad“ Modell Mercedes Nr. 5.
Eine beliebte Sonderausstattung war die Torpedo-Freilaufnabe. 1924 waren dafür ab Werk 11,30 Goldmark zu zahlen.
Eine beliebte Sonderausstattung war die Torpedo-Freilaufnabe. 1924 waren dafür ab Werk 11,30 Goldmark zu zahlen.
Die Karbidlampen der Marke „Radsonne“ gehörten nicht zur Grundausstattung der Mercedes Fahrräder.
Die Karbidlampen der Marke „Radsonne“ gehörten nicht zur Grundausstattung der Mercedes Fahrräder.
So liebevoll restauriert wie hier das Modell Mercedes Nr. 6, das feinste Damenrad in Luxus-Ausstattung, gibt es nur noch wenige Exemplare.
So liebevoll restauriert wie hier das Modell Mercedes Nr. 6, das feinste Damenrad in Luxus-Ausstattung, gibt es nur noch wenige Exemplare.
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Unverkennbar Mercedes

Eines hatten die Velos alle gemeinsam: den Stern. Das Markenemblem von Mercedes taucht mehrfach an den historischen Fahrrädern auf. Sei es im Ritzel des Tretlagers, eingestanzt in das Leder von Sattel und Werkzeugtasche oder doppelt auf dem Messingschild des markanten dreikantigen Steuerrohrs. Diese Form sollte an die Spitzkühler der Mercedes-Benz Automobile der damaligen Zeit erinnern. Außerdem hatte der Querschnitt den Vorteil, dass die zwei kleinen Mercedes Sterne auf dem Messingschild nicht vom Bremsgestänge verdeckt wurden.

Doch der Stern der Mercedes-Fahrradwerke GmbH strahlte kürzer als eine Karbidlampe. Nachdem die Produktion bereits 1926 nach knapp 27.000 Stück eingestellt worden war, wurde die Mercedes-Fahrradwerke GmbH Berlin-Marienfelde am 13. Mai 1930 aus dem Handelsregister gelöscht. Die Produktion wurde wieder auf Lkw umgestellt. Verglichen mit anderen deutschen Radmanufakturen – man schätzt den Marktanteil von Mercedes auf unter ein Prozent – kam insgesamt nur also eine geringe Stückzahl in Umlauf. Was auch am Preis gelegen haben mag: Die edlen Drahtesel mit Stern waren laut Werbebroschüre „Arbeitsmaschinen höchster Qualität“ und kosteten laut Händler-Preislisten ab Werk ohne Sonderausstattung wie die Torpedo-Freilaufnabe im Laufe der gesamten Produktionszeit zwischen 78 und 147,50 Goldmark. Das war für ein Fahrrad ein stolzer Preis und entsprach in etwa einem durchschnittlichen Monatslohn der damaligen Zeit.

Die Rahmen waren serienmäßig tiefschwarz emailliert. Darauf erstrahlte der Schriftzug Mercedes in Gold.
Die Rahmen waren serienmäßig tiefschwarz emailliert. Darauf erstrahlte der Schriftzug Mercedes in Gold.
Der Mercedes-Stern taucht immer wieder auf, zum Beispiel geprägt in das Leder von Sattel und Werkzeugtasche.
Der Mercedes-Stern taucht immer wieder auf, zum Beispiel geprägt in das Leder von Sattel und Werkzeugtasche.
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Begehrte Oldtimer

Rund ein Jahrhundert später sind Mercedes Fahrräder daher eine echte Rarität. Heute ist die Existenz von lediglich etwa 40 Exemplaren weltweit nachgewiesen. Dementsprechend gefragt sind die Einzelstücke bei Sammlern. Räder von Mercedes zählen zu den teuersten antiken Velos der Welt. Schätzungen zu Folge ist ein Exemplar je nach Erhaltungs- oder Restaurationszustand zwischen 10.000 und 25.000 Euro wert – wenn denn eines zum Verkauf stünde.

Holger Mohn

denkt schon länger darüber nach, sich ein älteres Fahrrad zuzulegen. Im Fokus stand bislang eines der frühen Mountain-Bikes aus den 1980er Jahren. Seit der Arbeit an dem Beitrag über Velos mit Stern ist der „Feine Straßen-Halbrenner“ neuer Favorit.

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