Wie beeinflusst COVID-19 die Digitalisierung?

Brecht²: Pandemie als Transformator?

02. Juni 2020 – Jan Brecht, Leiter der Mercedes-Benz IT, und sein Namensvetter, der Gesamtbetriebsrats-Vorsitzende Michael Brecht, im Gespräch zur Digitalisierung in Zeiten von COVID-19.

Viele Gespräche finden in der aktuellen Situation als Video-Konferenz statt – so auch die Diskussion zwischen IT-Chef Jan Brecht (li.) und seinem Namensvetter Michael Brecht, dem Vorsitzenden des Gesamtbetriebsrats.

Es gibt diesen Witz, der seit ein paar Wochen die Runde in den sozialen Netzwerken macht: Die Pandemie mit der Abkürzung COVID-19 habe die digitale Transformation vieler Unternehmen in wenigen Wochen stärker vorangebracht als das die Personen, die hinter den Abkürzungen CEO, CIO oder CTO stecken, jemals geschafft hätten. Keine Frage: Der Vergleich hinkt auf einigen Ebenen. Ein Körnchen Wahrheit steckt dennoch darin. Schließlich hat das neuartige Coronavirus dafür gesorgt, dass mehr Menschen denn je mobil von zu Hause arbeiten. Auch bei Mercedes-Benz gibt es hierzu weiterhin eine klare Vorgabe: Um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keiner unnötigen Infektionsgefahr auszusetzen, soll wo immer möglich von außerhalb des Büros gearbeitet werden.

Die technischen Voraussetzungen dafür hat das Team von Mercedes-Benz CIO Jan Brecht innerhalb kürzester Zeit geschaffen: „Nie zuvor haben so viele Kolleginnen und Kollegen auf einmal von zu Hause gearbeitet. Quasi übers Wochenende haben wir dafür gesorgt, dass bis zu zehn Mal mehr Nutzer auf unsere Systeme zugreifen können. In der Spitze waren das rund 115.000 Kolleginnen und Kollegen, die sich von daheim ins Mercedes-Benz-Netz eingewählt haben“, sagt der IT-Chef. Eine beeindruckende Zahl, die so manchen ungewöhnlichen Einsatz nötig machte: „Kleine Anekdote am Rande: Um das möglich zu machen, musste ein Kollege über Nacht Hardware von Berlin nach Frankfurt fahren, wo unser Rechenzentrum beheimatet ist.“

Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass mehr Menschen denn je mobil von zu Hause arbeiten.

Natürlich bedeutet Digitalisierung aber nicht nur, die passende Hardware mit einer schnellen Internetverbindung zu kombinieren. Genau deshalb nutzt Mercedes-Benz die aktuelle Situation nun auch, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter per Online-Plattform mit vielen Aspekten der digitalen Zeitenwende vertraut zu machen. Die Lerninhalte dürfen in Abstimmung mit der Agentur für Arbeit auch während der Kurzarbeit absolviert und auch mit dem privaten Rechner genutzt werden. Das so genannte Digital Readiness Programm umfasst mehrere Schulungseinheiten, die weit über klassisches Technologie-Training hinausgehen. Jan Brecht erklärt: „Gerade in einem Industrieunternehmen wie dem unseren wird Digitalisierung oft nur mit Technologie gleichgesetzt. Fragt man hingegen Digitalkonzerne, dann verstehen diese Digitalisierung als konsequente Ausrichtung des Geschäftsmodells am Kunden. Mit diesem Programm wollen wir das Thema Digitalisierung weiterdenken, über den rein technischen Aspekt hinaus.“

Bis Ende Mai hatten sich bereits mehr als 25.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das Digital Readiness Program registriert – der Zuspruch hat die Erwartungen der Initiatoren weit übertroffen. Gesamtbetriebsrats-Chef Michael Brecht ist ebenfalls ein Fan der digitalen Lernplattform: „Auch in den Werkshallen schreitet die Digitalisierung weiter voran, selbst wenn sie dort an manchem Arbeitsplatz noch neu ist. Darum brauchen wir ein Programm, das für jeden ein interessantes Angebot hat“, sagt er und argumentiert: „Natürlich laufen auch in der Produktion immer mehr Prozesse digital und zum Teil auf Basis von Apps. Doch allein die Tatsache, dass es die Möglichkeit gibt, heißt nicht, dass es auch von allen genutzt wird. Hier gibt es auch manche, die haben da Berührungsängste, weil sie keine Digital Natives sind. Auch diese Kollegen darf man nicht alleine lassen und muss sie anleiten, wenn sie da einen Bedarf haben. Deshalb war es mir wichtig, dass dieses Programm auch für alle Mercedes-Benz-Beschäftigten verfügbar ist.“

Die Digitalisierung, sagt Michael Brecht, werde die Arbeitswelt verändern. Und dennoch ist für ihn klar: „Wenn wir uns gegen diese Entwicklung stemmen, würden wir uns keinen guten Dienst erweisen. Aber die Debatte dazu ist keine einfache – vor allem auch wegen der Horrormeldungen, die hierzu durch die Republik geistern. Da ist vieles nicht mit Fakten belegt. Was aber Fakt ist: Deutschland ist kein Niedriglohnstandort, wir sind eine Techniknation. Damit das auch so bleibt, müssen wir schauen, dass wir auch in Zukunft an vorderster technologischer Front stehen.“

Mit dem Digital Readiness Program hat Daimler ein Angebot geschaffen, um während der COVID-19-Pandemie einen großen Schritt auf dem Weg in diese digitale Zukunft zu gehen. Was natürlich nicht heißen soll, dass der Konzern nach der Pandemie nur noch ein digitales Abbild seiner selbst sein wird. „Es soll ja auch nicht das Ziel sein, dass nach Corona alle nur noch im Homeoffice sitzen“, sagt Gesamtbetriebsrats-Vorsitzender Michael Brecht: „Die meisten Menschen sind schließlich keine Einsiedler-Krebse. All die technologischen Möglichkeiten ersetzen nicht das soziale Gefüge, das ein Unternehmen auch haben muss.“ Das sieht der IT-Chef genauso: „Selbst als CIO ist mir klar, dass die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht digital sind: essen, schlafen, soziale Beziehungen – das spielt sich alles komplett im Analogen ab“, sagt Jan Brecht. Welche analoge Tätigkeit er in der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen am meisten vermisst hat? „Am Freitagabend mit meiner Frau durch Stuttgart zu spazieren und dann in ein Restaurant einzukehren, das uns spontan gefällt.“